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500beine : 30 Polaroids

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Kein einziges Foto ist geblieben. Keins einziges von dreißig Polaroids, aufgenommen im Winter 1979 im Oberbergischen, wo der dicke Hansen ein Fachwerkhaus erben sollte. Das wollten wir uns anschauen und vielleicht eine Runde Schlitten fahren, ein paar Schneebälle werfen, ein bisschen was kiffen und Spaß haben. Was man eben so macht, wenn man neunzehn ist und mit Freunden unterwegs.

Wir, das waren Karlos, Pepe, der dicke Hansen und ich.

Schon die Hinfahrt war frostig. Weil Heizung und Lüftung ausfielen und vier Kiffer im Wagen saßen, beschlugen die Scheiben so stark, dass wir zeitweise bei offenem Seitenfenster fahren mussten, damit frische Luft reinkam und der dicke Hansen hinterm Steuer überhaupt mal was sehen konnte und nicht bloß auf Verdacht fuhr.

"Jetzt stellt endlich das Atmen ein!" wetterte er.

Und dann, als wir das Kaff im Oberbergischen erreicht hatten, setzte ich meine neuen Wildlederstiefel zum Wärmen auf den bullernden Ofen, wo ich sie über Nacht vergaß. Am nächsten Morgen waren sie zwei Nummern zu klein und sahen aus wie eine Pizza, die Bläschen wirft.

Es war das Wochenende, an dem der grimmige Winter 1979 Einzug hielt. Während das Dorf Minute für Minute tiefer im Schnee versank, hockten wir in der gemütlich möblierten, von einem englischen Kanonenofen befeuerten Klause im ersten Stock und drehten einen Joint nach dem anderen.

Das Erdgeschoss war an Einheimische vermietet, ein älteres Ehepaar, das lebenslanges Wohnrecht besaß und uns bewirtete, auf ausdrücklichen Wunsch von Hansens Großmutter, die in dem Dorf aufgewachsen war.

Pepe hatte sagenhaftes Dope auf der Tasche, Türkenplättchen, dünn wie Oblaten, potent wie Opium. Eigentlich taten wir nichts anderes als um den großen Nussbaumtisch herum zu sitzen, Joints zu drehen, Musik zu hören und albernes Zeugs zu singen wie Wir verkiffen unsrer Oma ihr klein Häuschen, was dem dicken Hansen schwer auf die Nüsse ging.

“Mann, das hören die doch da unten! Die sind doch nicht doof, nur weil sie auf dem Dorf wohnen!"

"Na klar sind die doof", rief Pepe bekifft.

Wir waren neunzehn und rauchten Haschisch, als ginge es um die Weltmeisterschaft. Wir verehrten JJ Cale, seine lässige amerikanische Okie-Musik, easy come, easy go, anyway the wind blow. JJ Cale war der Kitt, der uns zusammenhielt, auf den wir uns musikalisch alle verständigen konnten.

Es war seine beste Zeit damals in den späten 70ern, als er den Tulsa-Sound entwickelte und jedes Jahr ein Album herausbrachte. Niemand sonst schaffte es, Pop, Blues, Jazz und Country so mühelos miteinander zu verdrahten, so laid back, wie nebenbei. Und, ja natürlich, JJ Cale hatte Obeine. Obeine waren wie ein Eintrag im Personalausweis: guter Mann. Er war der stoppelbärtige Tramp, der im offenen Viehwaggon durch den Westen reiste, lässig auf einem Grashalm pfeifend, einen Nagel in den Stiefel getreten.

An der Wand hing ein Pin up-Auto-Kalender, der aus einem einzigen Blatt bestand, Miss Juni 1975. Der dicke Hansen machte den DJ und legte das frisch erschienene Jewish Princess von Zappa auf: I want a horny little Jewish Princess.. don't know shit about cooking and is arrogant looking - das Ganze von einem Hintergrundchor abgerundet, den wir lauthals mitschmetterten:

LA-LA-LA!!

Miss Juni 1975, JJ Cale und Zappa auf Hansens futuristischer WEGA 2000-Stereoanlage, Türkenplättchen, die schlicht aussahen, sich beim Bröseln aber aufplusterten wie ein Federkleid und ganz großes Zauberhaschisch wurden, dazu ein Haufen Pulverschnee, das war das Wochenende im Oberbergischen, Winter 1979.

Und die dreißig Polaroids. Dreißig witzige übermütige Aufnahmen, die wir ausnahmslos am ersten Abend schossen und mit Untertiteln versahen und die noch Jahre später für Furore sorgten.

“War das an dem Wochenende, als ihr im Oberbergischen auf die Fresse gekriegt habt?” hieß es, wenn die Fotos auf irgendeiner Party durch die Hände gingen. “Kann schon sein”, antworteten wir stolz, “glaub schon, ja.. sicher, das war das Wochenende”, und mit jedem Erzählen bezogen wir mehr Dresche, hatte Karlos mehr Finger gebrochen, fehlten Pepe gleich zwei Schneidezähne, tat mir der Schädel immer noch weh.

Dreißig Sofortbilder vom Winter 1979, die von einer versunkenen Zeit künden, einer Ära, die es so vielleicht nie gegeben hat, wer weiß das schon, die Beweise fehlen, sie sind lange verloren, dreißig Polaroids, niemand weiß, wo sie abgeblieben sind.

Sie sind fort.

Für die Gräfin, die Pepe niemals begegnete, ist Pepe bis heute das Phantom, dessen nobler grauer Hut an unserer Garderobe hängt, an prominenter Stelle. Der Hut ist alles, was geblieben ist von Pepe, der Jahre später an einer Überdosis Heroin verreckte. Der Hut und zwei verkratzte Langspielplatten von Iggy Pop und Bob Marley, auf denen Pepes Name verewigt ist, rechts oben in der Ecke.

In der zweiten Nacht im Oberbergischen wagten wir uns auf die Felder, obwohl ein Schneesturm tobte. Weil meine Schuhe auf dem Ofen kaputtgegangen waren, trug ich Gummistiefel, die ich irgendwo im Haus gefunden hatte, echte Bulldozer. Zugedröhnt bis zum Anschlag stapften wir durch den Schnee, es war stockfinster, der Wind brüllte und heulte, wir verloren die Orientierung und kamen kaum voran.

“Der Schnee hat den Weg geklaut!” schrie Karlos verwirrt.

Erst eine nur halb verwehte Traktorspur führte uns unter Mühen zum Ortseingang zurück.

Am nächsten Morgen wurde uns im Erdgeschoss ein warmes bergisches Bauernfrühstück serviert, mit Bratkartoffeln und Kaffee. “Ich hab heut Nacht kein Auge zugetan”, klagte das Weib. Erst dachten wir, sie hätte den Schneesturm gemeint, doch nein, sie meinte uns. Unseren Lärm. Ihr Ehemann erhob sich und tat sich grummelnd dadurch. Was wir nicht wussten: Das ganze Dorf hatte uns bereits auf dem Kieker.

Nach dem Frühstück zogen wir uns ins Obergeschoss zurück, das Dope war noch nicht ganz aufgeraucht. Vorsichtshalber hatte Hansen gleich nach der Ankunft die Ritze unter der Etagentüre mit Tüchern abgedichtet. Er kannte die Leute aus dem Dorf, wusste von ihren Vorurteilen gegen die aus der Stadt: Hippies, Taugenichtse, Haschgetüme.

LA-LA-LA.

Das Fiasko nahm seinen Lauf nach einer heftigen kurzen Auseinandersetzung zwischen dem dicken Hansen auf der einen und Pepe, Karlos und mir auf der anderen Seite. Der Anlass war nichtig. Wir wollten es partout nicht einsehen, vor der Abfahrt die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Wir stellten uns stur, bis der dicke Hansen drohte, ohne uns heimzufahren, worauf wir noch bockiger wurden und ihn als Spießer verhöhnten.

Es ging ums Prinzip. Wir waren verwöhnte Jungs. Wir erwarteten, dass Mutti vom Himmel fiel und hinter uns herräumte. Wutentbrannt machte Hansen Ernst und dampfte ab, die WEGA 2000-Anlage auf dem Beifahrersitz.

"Dann seht zu, wie ihr nach Hause kommt!"

Damit hatten wir nicht gerechnet, aber niemand versuchte ihn aufzuhalten. Es hätte auch keinen Sinn gemacht, Hansen aufzuhalten, wenn er sich verletzt fühlte. Als Kind hatten er und sein Bruder die schwerste Verletzung erlitten, die ein Kind erleiden kann: die überforderte Mutter hatte ihre beiden kleinen Jungs zur Oma abgeschoben. (Der Vater starb früh an Krebs und blieb den Jungs als der große Held in Erinnerung, der sie im Sommer gerne mit zum Angeln nahm.) Fortan hasste der dicke Hansen Frauen, die sich von ihm trennten. Frauen, die sich von ihm trennten, überzog er mit Hass und Niedertracht. Er verpfiff sie beim Finanzamt, wenn sie schwarz kellnerten, er machte Telefonterror, er schlitzte die Reifen ihrer Autos auf. Er mochte es einfach nicht, wenn man sich gegen ihn stellte.

Aber wer mag das schon.

Während der dicke Hansen nun allein im Wagen auf der Rückfahrt war, steckten wir zu dritt im Oberbergischen fest. Was blieb uns anderes übrig, wir würden den Daumen raushalten müssen und die gut zweihundert Kilometer bis nach Hause trampen.

“Zur Not zeig ich am Straßenrand meinen nackten Hintern”, bot Pepe an. Er hatte einen perfekt geformten, wunderbar weichen Frauenhintern, wie ein Schwämmchenverkäufer.

Als wir uns auf die Socken machten, dämmerte es bereits. Die illuminierten Christbäume in den Vorgärten, der weiße Rauch aus den Schornsteinen, das Dorf wirkte so friedlich, als habe man gerade den neuen Papst gewählt und der Welt verkündet. Und dann kamen wir daher und schmissen Schneebälle. Trafen eine Hauswand. Eine Kellertür, ein kleines Fenster. Vielleicht haben wir auch nur zu laut gelacht. In den Schnee gerotzt. Zu rotzig durchs Dorf geblickt.

Keine Ahnung.

Eine Haustür wurde aufgerissen. Im Eingang bauten sich ein Vater und seine Söhne auf. Drei kräftige Söhne, mit aufgepumpten Fäusten, dahinter die Mutter. Mütter von idiotischen Söhnen wissen in der Regel, dass sie idiotische Söhne zur Welt gebracht haben, und feuern sie an.

Es dauerte keine halbe Minute, da lagen sämtliche Langspielplatten, die ich in einer Plastiktüte mit mir trug, im Schnee verstreut, und mein Schädel klopfte, als hätte mir jemand Betonwürfel ins Auge gedrückt.

Karlos hatte einen Finger gebrochen und ging stiften, am ärgsten aber erwischte es Pepe, ihn stampften sie wirklich ein. Seine Brille splitterte, das Nasenbein knackte, er spuckte Blut. Ein Schneidezahn war weg.

Natürlich gab es dauernd Schlägereien damals. “Sollen wir vor die Tür gehen, Alter!?”, “Ja, gehen wir vor die Tür, Alter!” und dann ging man vor die Tür, Alter, und markierte den dicken Maxe, doch wirklich auf die Nase gab es eher selten. Die Sache im Oberbergischen dagegen war anders. Sie kam kurz und bündig wie eine Eilmeldung: paff, paff, paff! Lasst euch nie wieder hier blicken!

Paff!

Auf der Polizeistation im nächst größeren Ort, ein Fremder hatte uns an der Landstraße aufgelesen und mitgenommen, ließ man uns auf der Bank schmoren. Man beschimpfte uns als “Drogensüchtige”, die schon verdient hätten, was ihnen widerfahren war.

“Blutet uns ja nicht die Wache voll, ihr Säue!”

Erst als Pepes Vater, ein vermögender Unternehmer, der sein Geld mit einer Kette Jeans-Stores gemacht hatte, spät am Abend vorfuhr, im einschüchternd strengen Benz und braungebrannt, bequemte man sich, einen Arzt zu rufen und Strafanzeige aufzunehmen. Die im Sande verlief. Wir haben nie wieder von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gehört, in dieser Sache.

Wir waren heilfroh, als wir im beheizten Mercedes saßen und Pepes Vater kutschierte uns heim, wortkarg durch die Dunkelheit. Ein einziges Mal noch wurden wir munter. Wir hielten an einer hell ausgeleuchteten Jet-Tankstelle, und eine Frau mit Mannequinfigur, viel zu dünn angezogen, betankte ihren Wagen, und wie auf Kommando trällerten wir im Chor:

LA LA LA.

Im Benz duftete es nach Leder. Im Nachtradio lief Burt Bacharach. Wahrscheinlich war es James Last.


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