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500beine : Ein seltenes, ja seltsames Arrangement von Frau

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An einem nebligen Freitagabend im Februar 1987 stand ich in der Saaltür über der Stadtbücherei und schaute mich um, ob jemand Bekanntes da war. Sah nicht so aus, auf den ersten Blick. Auf den zweiten auch nicht. Meine Leute gingen nicht ins Theater. Das waren Bohemiens. Bergische Schädel. Die hatten dauernd Vorstellung. Possen. Warum ins Theater gehen, wenn das Leben räudig war, voller Wucht und tiefhängender Regenwolken.

Auch ich war ja nur hier, weil Karlos auf dem Küchentisch eine Freikarte dagelassen hatte. Das Ensemble Profan gab einen Tucholsky-Abend im selten gebuchten Saal über der alten Stadtbücherei. Es war rappelvoll. Die Zuschauer drängelten sich Schulter an Schulter an auf Oktoberfest getrimmten Tischen. Zigarettenrauch lümmelte in der Luft. WÄHREND DER VORSTELLUNG BITTE NICHT RAUCHEN.

Gleich hinterm Eingang hatte man eigens einen Bierstand aufgebaut. Ein erwartungsvolles Surren lag in der Luft, wie von Hummeln in einem dicken Hintern. Ich bestellte ein großes Bier.

Jemand winkte, von weiter vorn, aus der Menge. Meinte der mich..? Ich winkte auf Verdacht zurück. Ein Kerl mit Schnäuzer. Er rief etwas, was ich nicht verstand. Ich nahm mein Bier und bewegte mich übers glänzende Parkett Richtung Bühne, vorbei an vollbesetzten Bierbänken. Im letzten Moment erkannte ich den Winker. Es war der dicke Luca. Jetzt mit Schnauzbart.

In der Jugend hatten wir gemeinsam beim RSV Vereinsfußball gespielt, und Jahre später, zu Beginn der 80er, im Kühlhaus der FZ gearbeitet, einem Lebensmittel-Großhandel, ironischerweise gleich neben dem Fußballplatz. Luca als Staplerfahrer, ich als Kommissionierer.

Er war nicht allein. Neben ihm saß eine Frau mit dunklen Locken. Eine schöne Frau, warmer Blick. Über ihrem Mund ein Muttermal, eine Pigmentveränderung, eine herrliche Kaffeebohne. Ihre Augen funkelten. Ich war durcheinander. Das war lange nicht passiert. Das war genau genommen ein einziges Mal passiert, bei Lena, viele Jahre zuvor.

Wie zum Teufel ist Luca an so eine Frau gekommen, dachte ich, Luca, der alte sizilianische Schmerbauch. Sie musste seine Schwester sein. Na klar. Italiener haben immer eine kleine Schwester, die sie zu Hause verstecken bis sie zwanzig ist. Dann warten sie noch fünf Jahre, lassen die Welt schmoren und führen sie dann ins Theater, um sie meistbietend an den Mann zu bringen.

Oder sie schlägt sich mit 16 den Weg frei.

Luca grinste sein breites, unrasiertes Vorstopper-Grinsen, das ich noch aus alten RSV-Zeiten kannte.

"Alter, machst du denn hier?!"

"Der Karlos spielt bei Profan, ein Freund von mir", sagte ich. "Und du? Was machst.. was macht ihr hier?"

Ich sah fragend zu seiner Begleitung rüber. Es wäre ein perfekter Zeitpunkt gewesen, um uns einander vorzustellen, aber Luca war ein dicker Kerl, und träge.

Entfernt kam sie mir bekannt vor.

"Ich hab von deinem Preis gelesen. Glückwunsch", gratulierte Luca grinsend. Ich hatte ein paar Monate zuvor einen Literaturpreis erhalten. Jeder sprach mich darauf an. Es wurde allmählich lästig, zumal darüber hinaus gar nichts passiert war. Ich hatte einen Preis gekriegt - na und?

"Wie lange schreibst du schon? Wusste ich ja gar nicht, dass du schreibst."

"Ich auch nicht", fiel mir nichts besseres ein.

Ich kletterte langsam in sie hinein, mit Seitenblicken, und sie kletterte mit. Je mehr wir kletterten, desto schöner wurde sie.

"Mal im Ernst", meinte Luca. "Hast du damals auch schon geschrieben, als wir in der FZ gejobbt haben?"

Es war so laut im Saal, ich musste mich ein Stück zu ihm runterbeugen. Ich achtete darauf, dass ich mich zu Beiden runterbeugte.

"Mh, ja klar. Das Scheißhaus voll."

Luca klopfte sich gemütlich die Schenkel, wobei sein langes schwarzes Haar, zum Zopf gebunden, wie ein Lineal auf der Schulter hin und her baumelte.

"DU warst das damals..?!"

Tatsächlich hatte ich in der FZ aus lauter Frust die Klowände mit dämlichen Parolen beschmiert. Lauter Verballhornungen von FZ, was für Frischdienst-Zentrale stand und woraus ich phantasievolle Kracher kreierte wie: FZ = Fauler Zauber. FZ = Fiese Zitzen. Filigranes Zeugs eben.

Schnell kamen Sprüche von anderen Mitarbeitern hinzu, und jede Menge Scheißhauszeichnungen. Dicke Edding-Möpse, abspritzende Schwänze. Es gab auch eine Version, wo der Sperma hauchzart von der Nudel hing, was der Geschäftsführung zu Ohren kam. Verdächtige Mitarbeiter aus dem Kühl-und Tiefkühllager wurden aufgefordert, Schriftproben abzugeben. Alle mussten das gleiche Wort schreiben, auf eine kleine, alte Schiefertafel (!):

ZAUBER.

Fünfzehn bis zwanzig Mitarbeiter wurden verdächtigt und mussten zeigen, wie sie Zauber schreiben. Und wer zählte nicht dazu, trotz langer Haare und permanentem Zuspätkommen und verkatert auf dem Pott einpennen?

Richtig.

"Mittlerweile sind in der FZ alle Klotüren bis zur Hälfte durchgesägt", meinte Luca. "Damit die Chefs sehen können, wer wie lange auf dem Scheißhaus sitzt."

"Bist du etwa immer noch bei der FZ?" fragte ich, ehrlich besorgt.

Er nickte, und das Lineal schlug auf seinem Rücken sachte um sich.

Sie hatte noch kein Wort gesagt. Nur dagesessen wie ein Phantom und gestrahlt und ihr mysteriöses Muttermal tänzeln lassen.

"Na klar", hörte ich Luca sagen, "ich bin immer noch Staplerfahrer. Immer noch FZ."

Dann erlosch das Deckenlicht.

"Bis gleich mal", sagte ich.

Sie lächelte.

"Klar, Mann, bis gleich mal", rückte Luca seinen Stuhl zurecht, und ich federte zum Bierstand zurück.

Vorhang auf für die Tucholsky-Revue. In der ersten Nummer besang ein Chor von Waschweibern ihre nichtsnutzigen Ehemänner, auch die zweite Nummer war okay und zu Beginn der dritten kam Karlos auf die Bühne getorkelt und brach sofort zusammen.

"Wie Sie mir hier sehn, bin ick nämlich auffet Maul jefalln.."

Er war der leicht betrunkene Berliner, der vier Wahlkampf-Veranstaltungen hintereinander besucht hatte und nun durch die Strassen eierte.

"Det is wejen dem Jleichjewicht.."

In Höhe von Luca und der Schönen wickelte sich Karlos um eine imaginäre Straßenlaterne und berlinerte drauflos, wunderbar besoffen. Recht so, Karlos, dachte ich, zeig es ihr.

Das restliche Programm verfolgte ich nur mit einem Auge, weil das andere permanent das Tischgeschehen beobachtete, vorn im Halbdunkel. Im Ungefähren.

Nach der Zugabe ging die Deckenbeleuchtung an, Stühle rückten über den Parkettboden, Leute verließen den Saal, andere sammelten sich zu Grüppchen und plauderten noch etwas. Der Abend sollte noch nicht zu Ende sein, der Bierstand war nicht umsonst aufgebaut worden.

Ein Kellner drehte seine Runden, mit einem Tablett Raki in der Hand. Ich behielt sie die ganze Zeit im Auge, sie stand mit Luca und Bekannten herum, während ich mich zu Karlos Eltern an den Tisch setzte.

"Na, wie isses?" pummelte mich seine Mutter freundlich an. "War doch ein netter Abend, oder?"

"Ich hab den Karlos noch nie so besoffen gesehen", sagte ich.

Karlos Vater verzog die Mundwinkel.

Verdammt. Wenn ich hier noch länger rumsaß, ging sie mir noch durch die Lappen. Und wofür? Für Nüsse. Als ich auf sie zuging, redete sie gerade mit diesem Modepüppchen, das ich schon am Bierstand gesehen hatte. Eine sonnenverbrannte Tussi mit schwarzen, an den Fingerspitzen abgeschnittenen Handschuhen. Wie wohl mein Schwanz aussieht, dachte ich, umklammert von solchen Handschuhen.

"He, Luca."

Ich zog ihn auf meine Seite.

"Jetzt sag mal.. wer ist das? Deine Freundin?"

"Wer?"

"Na, wer wohl."

Er grinste. "Nee."

"Deine Schwester?"

"Nee. Auch nicht."

Sie schaute zu uns herüber, und Luca schwieg. Dann erzählte er von seiner Arbeit als Staplerfahrer bei der FZ. Als hätten wir dort nie zusammen gearbeitet. Noch am Morgen war er mit dem Stapler gegen ein Stahlregal geknallt und hatte beinahe einen Kollegen unter einem Berg Paletten begraben.

"Was war drauf?"

"Auf den Paletten? Butter."

"Deutsche?"

"Dänische."

Karlos erschien mit dem Sonnenscheinchen, einer blonden kleinen Gelegenheitsschauspielerin. Sein neuester Fang übernachtete gelegentlich am Kannenhof und quiekte beim Vögeln wie ein Marzipanschweinchen, in das ein kleiner, rosa Hilfs-Motor eingebaut war. Ich mochte es nicht besonders, das Sonnenscheinchen, ohne besonderen Anlass, wobei, das ist nicht richtig. Ich hatte es in Verdacht, uns bestohlen zu haben. Ein paar Gramm Grüner Türke war nämlich spurlos verschwunden, seit ihrer letzten marzipanen Vorstellung am Kannenhof.

Karlos nahm dem Kellner das Tablett Raki aus der Hand, "geht schon in Ordnung, Meister", und verteilte die Pinnchen selbst. Irgendwer hatte Geburtstag, jemand vom Ensemble, ich bekam aber nicht mit, wer. Alle griffen zu, auch die Tussi mit den abgeschnittenen Handschuhen. Nur Luca lehnte ab. Er war schon blau genug, und er trank nicht viel.

Endlich stand ich neben ihr. Sie war ein wenig blass, so aus der Nähe. Und kleiner als erwartet. Plötzlich setzte Musik ein, von Band. Oder lief die schon die ganze Zeit? Ich war verwirrt.

"Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt sagen soll", sagte ich.

"Sag irgendwas", sagte sie.

Wir stießen miteinander an.

"Ich dachte, du wärst Lucas Schwester", sagte ich.

"Seine Schwester? Nee. Wir sind Freunde, mehr nicht."

"Aber Italienerin bist du schon, oder?"

"Halbitalienerin. Ich bin in einem Fiat gezeugt worden, und mein Vater war Süditaliener, aber ich hab ihn nie kennengelernt."

"Meine Mutter ist Halbitalienerin, und meine Oma kommt richtig aus Italien", entgegnete ich stolz. "Norditalien!" Ich pries die Lesizzas aus dem Friaul.

"Tu mal dein Kuli!" sagte Karlos. Er fächerte sich mit einem Bierdeckel Luft zu. Er schwitzte, hatte sich die Theaterschminke nur larifari aus dem Gesicht gewischt.

"Darf ich vorstellen, Karlos", sagte ich zu ihr, und da fiel mir auf, dass ich ihren Namen nicht kannte. Und dass sie gar nicht so klein war. Sie hielt lediglich etwas Abstand zu mir, mit großen, neugierigen Augen.

"Genau, ich bin der Karlos", glühte Karlos durch die restliche Schminke hindurch, "und meine Vorfahren sind aus Pommern. Was ist jetzt mit dem Kuli!?"

Ich rollte den Stift aus dem Notizbuch und reichte ihn Karlos, der sich auch gleich mein Notizbuch schnappte und eine Telefonnummer aufschrieb. Die Telefonnummer der Handschuhkuh, was das Sonnenscheinchen nicht ganz so klasse fand. Es stand direkt daneben.

Als Karlos mir den Kuli und das Notizbuch zurückgeben wollte, kam Luca zu mir.

"Warte, Alter.. Du kriegst von mir ein Original-Staplerfahrer-Autogramm."

Zum Schreiben benutzte er meinen Rücken.

"In Liebe, Luca."

Ich wollte das Notizbuch wegpacken, da kam sie von hinten, langte dazwischen und verzog sich mit dem Buch und dem Stift an einen der Biertische. Es dauerte. Sie saß da und schrieb in mein Notizbuch, das wie immer dem Bestand meines Vaters entnommen war. Ein schwarzes Buch, auf dem vorn BENNINGHAUS aufgedruckt war, IHR SCHRAUBENHÄNDLER.

Während sie schrieb, hörte ich Luca zu, oder ich quatschte irgendeinen Blödsinn oder Karlos glühte mich an, keine Ahnung, es dauerte.

Als sie endlich fertig war und mir das Buch zurückgab, schaute ich kurz hinein. Ich sah zwei eng beschriebene Seiten in geschwungenen, schwärmerischen Buchstaben, schwer zu entziffern. FARCE konnte ich gerade noch lesen. DAS LEBEN EINE FARCE..

"Und deine Telefonnummer? Ist im Text versteckt?" fragte ich, und sie zuckte. Ein jäher Bruch. Als wäre ein Tier durchs Bild gesprungen. Da stimmte was nicht.

"Du wohnst nicht allein?" fragte ich.

Sie wirkte gehetzt, mit einem Mal. Ich fühlte mich auch ganz grau. Sie nahm das Notizbuch, das nach einer Mischung aus Knetgummi und AG Backen in der Grundschule roch, und setzte im Stehen ihren Namen drunter. Dahinter in Klammern: Falls. Und die Telefonnummer.

Dann nahm sie einen Schluck Bier und rülpste leise.

"Ich ruf dich echt an", drohte ich.

"Ja", sagte sie. Sie schaute müde aus. Schön und müde. Ich hatte die Nummer.

Sie bot mir ein Kaugummi an.

"Salbeibonbons hab ich auch."

"Salbei?" fragte ich.

"Ja, Salbeibonbons. Schmecken, als würde man mit dem Mund in der Badewanne sitzen."

"Moment.."

Ich holte mir ein großes Bier vom Bierstand und noch ein Raki vom Tablett, mit dem Karlos von Grüppchen zu Grüppchen zog. Als ich mich umdrehte, war sie fort. Sie war nicht mehr da. Ich lief durch den sich leerenden Saal, schaute in jeden Winkel, sie war weg.

Ich hatte die Nummer.


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