Eine kopflose Geschichte
Winzer ist ein Kaffeetrinker. Ein Kaffeesäufer der schlimmsten Sorte. Er ist auch ein Krimiautor. Ein erfolgloser. Er sitzt in seiner Wohnung und bekommt Hartz IV. Und das ihm, der den Nobelpreis bekommen müsste.
“Ach, das Leben ist hart.”
Kaffee hat er auch keinen mehr. Das Geld ist alle. NADA. NOTHING. Geld ist aus. Hartz IV. Das hört sich für die Leute gut an. Rumsitzen und kassieren. Unsinn! Papperlapapp.
Und jetzt? Jetzt muss Winzer wieder los. Er zieht sich seine schwarzen Klamotten an. Ninja-Style. Nimmt sein Küchenmesser und zieht los, um sich die Taschen zu füllen. Sein illegaler Nebenerwerb: Mord- und Totschlag.
Um den Nachbar vorzugaukeln, er habe die Wohnung nicht verlassen, seilt er sich ab. Direkt vom Balkongeländer. Mit seinem Betttuch. Er wohnt im Erdgeschoss. Keine wirkliche Mutprobe.
Unten sondiert er das Gebiet. Auf dem Spielplatz treiben sich ein paar Kids herum. Die haben meistens Geld, das sie anderen Kids in der Schule abnehmen. Schutzgelder. Drogengelder. Er tut was Gutes, wenn er sie abzieht.
Er macht eine Rolle vorwärts und landet im Gebüsch neben dem Spielplatz. Mit einem HA! springt er hervor. Sie sind nicht überrascht. OH NEIN! Sie sind nicht mal ansatzweise verängstigt.
“Ich will euer Geld!”, fordert Winzer.
Sie hören etwas von Silo. Silo ist ein bekannter Rapper aus der Gegend, der es ins Rampenlicht geschafft hat. Einer, der aus dem Ghetto an die Spitze der Albumcharts katapultierte wurde. Die Kids ziehen ihre Waffen. Jeder von ihnen hat eine Waffe. Selbst die ganz Kleinen. Sie halten ihm ihre Schießeisen unter die Nasen und fordern die Klamotten und das Messer. Winzer kann es nicht fassen. Nicht glauben. Und das ihm. Alles läuft schief.
ALLES!
Er zieht sich zähneknirschend aus und übergibt das Messer. Die Kids lassen Gnade vor Recht ergehen und erklären ihn zu ihrem Gefangenen. Sie sagen ihm, wer sie sind. Die KIDS DES TODES. Sie haben das Viertel im Griff. Normalerweise müsste er jetzt sterben. Aber sie seien heute gut drauf, erklären sie. Er dürfe überleben. Was er so mache und so?
Krimiautor, sagt Winzer.
Sie lachen sich über die Antwort kaputt. Sie schütteln sich. Wiegen sich wie kleine Apfelbäumchen im Wind. Ein Künstler also. Solche gebe es hier im Viertel nur. Alles Schriftsteller, Maler, Models.
Sie könnten einen Hofnarr gebrauchen. Einen Diener.
Winter meint, er könne nicht. Er habe noch was vor. Später käme FRAUENRAUSCH im Fernsehen. Und DEUTSCHLAND SUCHT DEN SUPERDEPP. Da könne er nichts verpassen. Das würde man ihm als Bildungslücke auslegen, sagt Winzer und schiebt seinen nackten Arsch langsam nach hinten.
Er solle bleiben, wo er ist.
Die KIDS DES TODES beratschlagen, schließlich schieben sie ihn vor sich her.
Da rüber!
Wohin?
Die KIDS DES TODES haben eine Höhle gegraben. Unterirdisch. Alles sehr eng. Feucht. Man kommt kaum rein.
“So wünscht du es dir doch”, lacht eine, die die anderen Lady C nennen. Alles besser als Chantale, wie sie wirklich heißt.
Winzer muss sich in das Loch zwängen. Er bekommt kaum Luft. Sie schmieren ihn mit Vaseline ein. Zwängen und ächzen, bis er schließlich feststeckt. Winzer bekommt Atemnot. Panik. Überall sind Würmer. Er kann nichts sehen. Hier kann man nicht leben. Zurück! Er strampelt, bis sein Kopf wieder aus dem Loch guckt.
“Das geht nicht”, sagt er.
Die KIDS DES TODES sind schon lange fort. Sie haben die Höhle aufgegeben. Die Lust haben sie auch verloren. Soll der doch in dem Loch bleiben.
Und Winzer bleibt. Das Unglaubliche geschieht. Niemand befreit ihn. Er bettelt. Fleht, aber niemand will ihm aus dem Loch helfen.
Besser so, denken die Leute im Viertel. Jetzt haben wir eine Attraktion.
Die Besucher kommen von nah und fern. Aus Japan. Sogar welche aus Sylt. In diesem Viertel, sagen sie, da wächst einer aus dem Boden.
Gierig umringen ihn die Touristen. Die KIDS DES TODES kassieren die Eintrittsgelder. Acht Euro die Karte. Das geht doch. Was stellt ihr euch so an? Nur acht Euro und ihr könnt den Mann bewundern, der aus dem Boden wächst. Nicht mehr lange, so kündigen die KIDS DES TODES an, dann wird er geerntet.
“Geerntet?”, fragt ein Journalist entsetzt.
“Klar”, sagt Lady C. “Kopf schmeckt besonders gut, wenn man ihn im Schnellkochtopf zubereitet.”
Die Politik schaltet sich ein. So ginge das nicht. Man müsse ein Kommission einsetzen, die überprüfen müsse, um es sich um ein Gewächs oder einen Menschen handelt, erst danach könne man entscheiden.
Winzer weiß von dem all nichts. Er fühlt sich wohler denn je. Er ist ein Star. Wenn er jetzt einen Krimi veröffentlichen würde, er würde sich wie verrückt verkaufen. Ein Hit, ein Bestseller, geschrieben von dem Mann, der aus der Erde wächst. Dem Baummenschen. Dem Strauchlebewesen. Der Kartoffelnase.
Nach ein paar Wochen verliebt sich Winzer sogar in eine kleine Frau aus dem Nachbarviertel, die ihn täglich mit Marzipan füttert. Er ahnt nicht, dass sie ihn füttert, weil sie zu denen gehört, die ihn später, wenn er geerntet wurde, essen will.
Wie so ein Kopf wohl schmeckt?, fragt sie sich.
Es gibt aber auch Kräfte, die ihn befreien wollen. Menschen, die sich für die Rechte von Köpfen einsetzen. Und eines Nachts kommen sie, um ihn zu befreien. Sie fahren schweres Gerät auf. In einem Schubkarren: Hacken und Schaufeln. Winzer bekommt zunächst nichts mit, so fest schläft er. Ihm träumte gerade von einem Fußballfeld. In der Mitte statt eines Balles sein Kopf. Anpfiff. Einer der Spieler stürmt auf ihn zu, holt aus, tritt zu und …
Winzer erwacht. Was ist denn hier los. Schweiß, Nacht, Erde. Bitte sehr, ich erwarte eine Erklärung.
Nichts da. Die Befreiungsorganisation FREIE KÖPFE hat keine Zeit, sich auf Diskussionen mit ihrem Zielobjekt einzulassen. Später kann man reden. Später auf der DÜSSELDORF, dem größten Ökoaktivistenkahn der Menschheitsgeschichte. Die DÜSSELDORF hat schon alle Meere der Welt befahren. Man hat Delphine, Wale, Seesterne, Rochen gerettet. Sie alle konnten sich nicht äußern, ob sie überhaupt gerettet werden wollten. Dieses Mal ist es anders. Winzer wird sich äußern können. Er wird seinen Dank direkt in die Kameras hauchen können. Die Kameras, die alles einfangen werden. Jede kleinste Regung. Jede Träne.
Die KIDS DES TODES werden außer sich sein. Sie werden toben. Wie konnte man ihnen ihren Kopf entführen, wo er schon für viel Geld an Gourmets aus aller Welt verkauft war.
Sogar Jaques Pepin wollte kommen. Pepin, der 1976 siebzehn Meerjungfrauen, eingelegt in Meerwasser, angelegt an Flußkrebse, verspeiste. Pepin gilt als Sinnbild des französischen Gourmets, der sich nicht auf Kartoffeln oder Brot stürzt, sondern dem gerade das Beste gut genug ist. Wie damals, als er Rasenstücke in Salbeisoße aß, nicht irgendwelche Rasenstücke, sondern Rasenstücke aus dem Rasen des amerikanischen Präsidenten. Frisch aus der Wiese vor dem Weißen Haus geschnitten und nur wenige Meter entfernt zubereitet. Pepin verputzte ganze siebzehn Quadratmeter. Die Presse jubelte, während Pepin die Schusswunde versorgen ließ, die der SECRET SERVICE ihm als Dessert verpasst hatte.
Winzer lässt seinen Blick schweifen. Verzweiflung in den Augen. Die Wachen, die die KIDS DES TODES aufgestellt hatten, enthauptet.
“Wie konntet ihr das tun?”, schreit Winzer.
“Für die Sache der Freiheit”, sagt die Bordgynäkologin Dr. Reifenbach.
“Ihr Monster!”
“Nein, wir sind keine Monster. Das sind die Monster. Man hat sie ausgestellt. Und in wenigen Tagen wollte man sie ernten und verspeisen.”
Unsinn. Was reden die da?
Die Organisation FREIE KÖPFE hat ihn ausgegraben.
“Stehen Sie auf”, sagt Doktor Reifenbach.
Winzer versucht es. Er versucht es wirklich. Er kann es nicht. Spürt weder in den Händen noch Füßen etwas.
“Der Rollstuhl!”
Der Ruf nach einem Rollstuhl wird weitergetragen. Von Mund zu Mund wird er getragen.
“Was ist mit mir?”, fragt Winzer.
“Alles abgestorben”, antwortet Reifenbach. “Wir werden Ihnen den Kopf abnehmen müssen und ihn an ein Computersystem anschließen müssen. Ein kompliziertes Verfahren, wie man es aus FUTURAMA kennt. Ihr Kopf wird unter einer Glasglocke landen.”
Man hebt Winzer in den Rollstuhl, der nicht glauben kann, was er eben gehört hat.
“Sie meinen, so wie in der Zeichentrickserie?”
“Unsere besten Erfindungen stammen aus Zeichentrickfilmen.”
“Und haben sie das schon mal gemacht.”
Frauen und Männer in Ärztekitteln stehen um ihn herum.
“Was hat er gefragt?”
“Er will wissen, ob wir schon mal einen Kopf entfernt haben.”
Gekicher. Dann schieben sie ihn rasch zum LKW KÖLN, dem größten Ökoaktivistenlastkraftwagen der Welt.
Die DÜSSELDORF hebt und senkt sich. Stürmische See. Meterhohe Wellen. Die DÜSSELDORF wird seit Wochen von einem Boot der KIDS DES TODES verfolgt, die die Herausgabe ihres zu früh geernteten Kopfes fordern.
Winzers Kopf wurde abgetrennt, um ihn zu retten. Er wurde an einen Computer angeschlossen.
“Ich starre seit Tagen auf dieses Bild eines Schiffes in Seenot”, beschwert Winzer sich.
Elvira Reifenbach kann es nicht mehr hören. Winzer geht ihr bereits jetzt unsagbar auf die Nerven. Auf die Nerven, die Nerven, und das SOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOO unsagbar. Nerven, Nerven. Sie zwinkert nervös mit dem linken Auge.
“Meine Stirn juckt!”, schreit Winzer. “Ich will sie gekratzt bekommen.”
Die Gynäkologin beugt sich zu dem Kopf. “In der Erde dort in Ihrem Viertel, da haben Sie sich doch auch nicht dauernd beschwert.”
“Dort war ich ein verfluchter Star”, sagt Winzer. “Hier stehe ich in einer Kajüte rum. Ich werde nur manchmal vom Kapitän geholt, um ihm bei seinem Sex zuzusehen.”
“Das streitet der Kapitän ab!”
“Er treibt es mit einem Loch im Schrank.”
Dr. Reifenbach will das nicht hören. Sie ist hier, um sich für die Rechte bedrohter Arten einzusetzen. Für das Gute. Da kann sie es gar nicht gebrauchen, wenn das Befreite ständig meckert.
“So können wir ihn nicht der Presse vorführen”, sagt Elvira später beim Abendessen.
Sie blinzelt dem Bordmacho Don Lillo zu, der sich nachher in ihrem Bett einzufinden hat. Sie will sich ablenken. Will den Kopf vom Kopf frei bekommen.
“Und was machen wir mit ihm?”
Die entscheidende Frage, auf die momentan niemand eine Antwort hat.
Wochen, Monate. Der Kopf wird von Hand zu Hand gereicht. Er will sich nicht vor der Presse bedanken. Man droht ihm damit, ihn abzunabeln. Raus mit den Kabeln. Offline. Es fruchtet nicht. Winzer will, dass man ihn in seine Wohnung zurückbringt, am liebsten ins Loch. Dort gehört er hin. Dort war er wer.
DAS GEWÄCHS!
Elvira Reifenbach spricht mit Engelszungen auf ihn ein. Sie redet sich die Zunge wund. Leckt aufreizend über das Glas. Verspricht, dass er sie mit der Zunge befriedigen darf, wenn er aller Welt erzählt, was für großartige Freiheitskämpfer ihn da vor, sie muss nachzählen, drei Jahren befreit haben.
Drei Jahre? Winzer schluckt. Er hat die Faxen dicke. Er spuckt, obwohl er gar keine Spucke mehr hat. Ich denke, als bin ich. Nach dem Prinzip funktioniert er. Oder das, was von ihm übrig ist.
In einer stillen Nacht auf dem offenen Meer, kommt es über ihn. Er beginnt hemmungslos zu weinen, bis er Geräusche hört. Seine Lider zucken. Schüsse sind zu hören. Bomben detonieren. Schließlich wird seine Tür in die Kajüte gepustet. Haarscharf an seinem Kopf vorbei.
Die KIDS DES TODES stürmen hinein, mitten unter ihnen Jaques Pepin, der eine Latz trägt. In seinen Händen Messer und Gabel.
“Da seid ihr ja endlich”, schreit Winzer begeistert.
Die KIDS DES TODES rappen etwas von Silo, bevor sie ihn in einen Sack stopfen.
Und ab!
Wo bin ich? Teller. Besteck. Kerzenständer. Oh, das ist aber ein fein gedeckter Tisch. Und alle sind sie da. Die KIDS DES TODES. Und der Mann mit dem Latz. Auch die Frau, die mich gefüttert hat. Meine große Liebe. Warum kann ich nicht reden? Ach, wegen des Apfels in meinem Mund. Tut gar nicht weh. Ich kann mich sogar aus meinem Kopf befreien. Da! Ich schwebe über dem Tisch. Dort unten bin ich. Allen läuft das Wasser im Mund zusammen. Hm, ich sehe verflucht lecker aus. Ja, was machen sie denn jetzt? Sie schneiden mich an. Mein Ohr. Nicht schlimm. Ich empfinde keinen Hass. Da ist so viel Liebe. Und wenn sie mich unbedingt essen wollen, dann sollen sie das tun. Ich werde jetzt auf diese Licht dort drüben zufliegen, ja, weiter, hin zum Licht. Und rein ins Licht und …
