DIE UHR : ZEITGEIST ’68 | SOZIOLOGISCHER BLICK | IM JETZT DES GEFÜHLS | SPRACH- ALS MEDIENKRITIK | VERFREMDUNG ALS KRITIK | VERFAHREN UND GENRE | DER ÖFFENTLICHE AUTOR | BILDER , GEGENLAUF UND GEGENSCHRIFT | LITERATUR | DER AUTOR
Leopold Federmair: Schock, Bruch, Finte.
Handkes Beitrag zum Fortschritt des Bildersehens
1970 drehte Peter Handke seinen ersten Film, Chronik der laufenden Ereignisse, der vom Westdeutschen Rundfunk produziert und im Mai 1971 von der ARD ausgestrahlt wurde. Genau genommen war Handke zuvor schon an einer anderen Filmproduktion beteiligt gewesen: 3 Amerikanische LP’s unter der Regie von Wim Wenders. Handke hatte den drei Jahre jüngeren Wenders nach der Premiere eines seiner Theaterstücke in Oberhausen kennengelernt, als dieser noch “ein verlorener Abiturient war, der nicht wußte, was er tun sollte.”
Der Film, den sie dann zusammen machten, war wohl eher eine Fingerübung, als Darsteller wirkten nur die beiden, Dauer 13 Minuten, Erstausstrahlung im November 1969 durch den Hessischen Rundfunk, Musik von Harvey Mandel (1969/70 Gitarrist von Canned Heat), Creedence Clearwater Revival und Van Morrison, alles Namen, die später in den Büchern Handkes wiederholt vorkommen sollten. An der Chronik der laufenden Ereignisse war Wenders nicht beteiligt, durch die Präsenz des Schauspielers Rüdiger Vogler (Hauptdarsteller in vielen seiner Filme) sowie durch die langsame, zuweilen sehnsüchtige, den Blick ins Offene hebende Filmästhetik ist jedoch eine Verbindung zum später berühmt gewordenen Regisseur spürbar.
Die hier erwähnten Daten hat Lothar Struck in seinem Büchlein über “Peter Handke und das Kino” zusammengestellt. Der Überblick, den Struck bietet, macht deutlich, wie stark die Kinoerfahrungen Handkes auf seine Sehweisen und sein literarisches Werk, vor allem das frühe, gewirkt haben. Das Bedürfnis, selber Filme zu machen, scheint nach den ersten, mit großem Erfolg aufgeführten Theaterstücken nahe gelegen zu haben. Wenn man Handke als “Popliteraten” bezeichnet hat, so ist dies nicht nur durch Affinitäten zur damaligen Popmusik, sondern auch und noch mehr durch Handkes Empfänglichkeit für die populären Spielarten des Kinos, nicht zuletzt auch des damaligen Hollywood-Kinos, bedingt: “Seltsamerweise war ich von den Western immer am meisten angezogen, sie erweiterten, öffneten mich…” Wie später, an seiner “Wende zur Klassik”, vom Maler Cézanne, so ließ sich der junge Handke in seiner Weltwahrnehmung vom Filmemacher John Ford anleiten.
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DIE UHR : ZEITGEIST ’68
Sieht man die Chronik der laufenden Ereignisse mehr als vier Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen, überrascht nicht die Tatsache, daß der Zeitgeist von 1968 darin Spuren hinterlassen hat, sondern nur, in welchem Maß dies der Fall ist. Das ist einerseits durch Handkes Absicht bedingt, eine Kontrafaktur zu gängigen Fernsehchroniken herzustellen; andererseits zeigt aber schon diese keineswegs selbstverständliche und sicher nicht aufgezwungene Entscheidung, daß Handke sich in der Gegenwart damals wie ein Fisch im Wasser bewegte. In keinem anderen Werk hat sich Handke so viel mit Politik, Politikern, Gewerkschaften, sozialen Fragen auseinandergesetzt. “Alles” war in jenen Jahren politisch, alles war sozial, und daß sich Handke mit der These “Die Literatur ist romantisch” diesem Postulat widersetzte, liegt vielleicht daran, daß es bei ihm zunächst und zugleich auf offene Ohren stieß.
Die Zeiten waren im Umbruch begriffen, die Gegenkultur war dabei, althergebrachte Formen und Verhaltensweisen zu verdrängen, teils im Sinne der Neuerer, teils auch hinter ihrem Rücken. Als Provokateur bei seinem Auftritt bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton ebenso wie mit seinem ersten Theaterstück, der Publikumsbeschimpfung, und schließlich mit seinem Fernsehfilm, der das Fernsehen in seinen Mechanismen bloßstellte, konnte Handke mit viel Zuspruch und einem entsprechenden Buchverkauf rechnen: Struck nennt 43.000 im Verlauf von zehn Jahren verkaufte Exemplare, was für ein Drehbuch ziemlich viel ist.
In Chronik der laufenden Ereignisse ist zweimal eine Uhr in Nahaufnahme zu sehen, deren Sekundenzeiger auf acht Uhr zustrebt, wodurch die Erwartung geweckt wird, die Tagesschau werde gleich beginnen. Diese Erwartung wird nicht erfüllt, sie wird durchbrochen, der Nachrichtensprecher schweigt am Ende des Films. An die Stelle der ausgesparten Tagesschau tritt Handkes Film, der die Ereignisse des Jahres 1969 erzählt und bewußt nicht-erzählt, Ereignisse, die er demontiert und in andere Richtungen lenkt.
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SOZIOLOGISCHER BLICK
Was das Soziale betrifft, so hat Handke seine Sensibilität vor allem in Wunschloses Unglück, Anfang 1972 geschrieben, unter Beweis gestellt, und zuvor schon in Sprechtheaterstücken wie Kaspar und Das Mündel will Vormund sein. Mit Recht spricht Hans Höller für den Bericht über das Leben der Mutter von einem “sozial analytischen Blick”. Erstaunlich, wie sehr sich Handke in dieser Erzählung eines soziologischen Jargons bedient, um soziale Verhaltensmuster darzustellen, aber auch, im Zusatzeffekt, um den Jargon selbst vorzuführen und zu relativieren. Fraglich, ob Handke heute eine Aussage wie die bekräftigen würde, nur die Verallgemeinerung von persönlichen Geschichten sei überhaupt von Interesse, die “bloße Nacherzählung” aber “nichts als eine Zumutung”. In dieser Anwendung sozialer Schematismen auf den Einzelfall sieht Handke nämlich bereits eine Gefahr:
Das Gefährliche bei diesen Abstraktionen und Formulierungen ist freilich, daß sie dazu neigen, sich selbständig zu machen.
Sie können ihrerseits zu rhetorischen Mechanismen werden, obwohl ihre Ausgangsabsicht darin bestand, erstarrte Verhältnisse aufzuzeigen und sie, um ein Wort von Karl Marx zu gebrauchen, “zum Tanzen zu zwingen”.
Daß Handke populäre Marx-Worte wie dieses geläufig waren, zeigt das Vorkommen der Wortkombination “jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen” in der Chronik der laufenden Ereignisse, die auf Marxens Definition des Wesens des Kommunismus (in der Kritik des Gothaer Programms) verweist. Aufschlußreich und zugleich witzig ist das Einschmuggeln neomarxistisch gefärbter Aussagen und Parolen in den fiktionalen, von einem Schauspieler gesprochenen Diskurs des damaligen Weltbankpräsidenten Robert McNamara, der meint, es sei eine politische Aufgabe, “daß Träume und Schizophrenie zu gesellschaftlichem Bewußtsein werden.”
Die Quelle dieser Anspielungen konnte ich nicht identifizieren, doch die Sätze, die Handke McNamara in den Mund legt, klingen ganz nach dem, was man in den sechziger Jahren in den Schriften der Situationisten um Guy Debord lesen konnte, oder auch, etwas mehr ins Philosophische gehoben, bei Gilles Deleuze und Félix Guattari. Es ist fast schon wieder komisch und sagt vielleicht etwas über fernere Wandlungen des Zeitgeists, wie eine französische Germanistin diese Äußerungen im Jahr 1994 wörtlich nehmen und damit mißverstehen konnte. Ziel der kapitalistischen Politiker sei es, “die Gesamtheit der Energien zu knebeln und zu totalisieren”.
Das Verfahren Handkes besteht aber darin, dem Repräsentanten des Weltkapitalismus ein alternatives, freudomarxistisches Programm unterzuschieben und damit seinen Diskurs zur Implosion zu bringen. So werden es aufmerksame Fernsehzuseher damals verstanden haben, linke Studenten und Intellektuelle, die sich dabei ins Fäustchen gelacht haben werden. Handke betätigte sich in seinem ersten Film wie in den frühen Theaterstücken als Sprachmonteur, der Sprechfloskeln ebenso wie Bildformeln untersucht und demontiert, um deren Gemachtheit zu zeigen und die Gewohnheiten sprachlicher, damit aber auch sozialer Ordnungen zu unterwandern.
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IM JETZT DES GEFÜHLS
Anhand von Chronik der laufenden Ereignisse läßt sich sehr schön nachvollziehen, wie Handke sich als Autor zeitgeistigen Strömungen öffnete, die er – es versteht sich fast von selbst – auf seine besondere Weise verarbeitete. Eine zweite, neben der sozialen herlaufende, sich teilweise mit ihr vermischende Strömung ist jene neue Subjektivität, der Marcel Reich-Ranicki später ihren Namen geben sollte. 1969 ist sie erst im Entstehen, kein bloß literarisches Phänomen, sondern Ausdruck des Bedürfnisses vieler, vor allem junger Menschen, über das zu reden, was man von nun an “Beziehungen” nannte. Oft geht dieses Bedürfnis mit einem Plädoyer für freie Sexualität einher.
Ganz in diesem Sinn sagt Rüdiger Vogler, offenbar in ungebremster Spontaneität, jedenfalls aber außerhalb jeder Schauspielerrolle, in einem für die Chronik aufgenommenen Gespräch, daß er sich “im Moment eigentlich sehr glücklich fühle”, und seine Bekenntnisse klingt überhaupt nicht peinlich. Oder, besser gesagt, diese Art, sich zu “outen”, lag in der Luft, die der Zeitgeist wehen ließ. Man konnte und sollte mit ehedem als peinlich empfundenen Gefühlen ins Gruppengespräch und, warum nicht, in eine größere Öffentlichkeit gehen. Vogler könnte sich “im Moment” – noch einmal betont er das Hier-und-Jetzt außerhalb jedes und auch des filmischen Programms – “vorstellen, viele Leute zu lieben. Im Moment ist es mir eigentlich ganz egal, wen ich da lieben würde…”
In seinen Äußerungen schwingt eine der Hymnen der Woodstock-Generation mit, ihr Titel konnte als Lebensmaxime dienen: Love the one you’re with. Den Song hat Stephen Stills 1970, ein Jahr nach dem Festival in Woodstock, an dem er teilgenommen hatte, aufgenommen. Ein wenig erzählt “die Frau” in Handkes Stück Die schönen Tage von Aranjuez von dieser Zeit. Hämisch nennt sie ihr Gesprächspartner, “der Mann”, ihre “Fick- und Vögeljahre”. Sie verweist ihm diese Rede und Bezeichnet sich als “das Kind der Liebe”. Im Rückblick spricht sie mit einiger Skepsis, ohne indessen die ganze Epoche zu verwerfen: “Wenn ich an jene Jahre zurückdenke: Nichts als Gegensätzlichkeiten, von einem Tag zum andern, einer Stunde zur andern. Begehren, Ekel, Ekel vor dem Begehren. Zärtlichkeit, gespielte Zärtlichkeit, Gewalt, zärtliche Gewalt, gewalttätige Gewalt. Und immer kam alles so plötzlich (…). Epoche, Periode der Plötzlichkeit.”
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SPRACH- ALS MEDIENKRITIK
Ob man Handkes Sozialkritik in Form von Sprach- und Bildkritik als Zeitgeistströmung bezeichnen soll, ist fraglich. Fest steht, daß sich Schriftsteller und Künstler um 1970, zum Beispiel Rolf Dieter Brinkmann, auffällig oft diverser Techniken des Sammelns und Collagierens, des Zertrennens und Montierens bedienten, und daß die seltsame Aura des Ready-mades verführerisch wirkte, auch auf Peter Handke, der neben der Bild-Text-Collage Legenden auch die Aufstellung des 1. FC Nürnberg und die japanische Hit-Parade (beide im Jahr 1968) als literarische Texte in den Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt aufnahm. Handkes Sprechtheaterstücke, die ihn für einige Zeit zum Popstar machten, treiben Sprachkritik in dem Bewußtsein, daß die Sprache, zuerst und vor allem die gesprochene Sprache, ein grundlegendes Instrument der Vergesellschaftung ist.
Wer die Sprache oder, wenn nicht die Sprache an sich, so doch ihren Gebrauch kritisiert, kritisiert bereits die Gesellschaft. Dies wird besonders an Kaspar deutlich; dasselbe Verfahren ist aber schon in der Publikumsbeschimpfung am Werk, und Handke geht einen Schritt weiter, wenn er in Das Mündel will Vormund sein sprachlose Verhaltensschablonen und ihre disziplinierenden Wirkungen darstellt, die ebenso wie das Erlernen der Sprache auf Wiederholung und Nachahmung beruhen. Was gezeigt und, in bestimmten Momenten, demontiert wird, sind Formeln, Muster, Modelle. Nicht durch Kommentare, nicht durch thematische Erörterungen, sondern allein am Material von Sätzen, Gesten und Bildern, durch die Art, wie sie gereiht, miteinander in Beziehung gebracht und dekontextualisiert werden.
Im Rückblick hat sich Handke wiederholt dagegen verwahrt, jemals ein “experimenteller” Autor gewesen zu sein. Dieses Epitheton ist vielleicht nicht ganz passend, doch die Nähe zu dem, was die Wiener Gruppe wollte und praktizierte, liegt – im Rückblick – doch auf der Hand. In Handkes Werk blieben Sprachkritik und spielerischer Umgang mit der Sprache eine Strömung, die sich mit anderen Zuflüssen verband, zeitweilig auch ganz an Bedeutung verlor, aber noch in den medienkritischen Schriften zur Zeit der Jugoslawienkriege wiederkehrte. Lothar Struck hat in seinem profunden Buch über Handkes Jugoslawien-Engagement diesen Zusammenhang hervorgekehrt und dabei auch auf Karl Kraus als medienkritischen Vorläufer verwiesen.
Struck zitiert unter anderem Handkes 1969 in der ZEIT erschienenen Aufsatz über die Tautologien der Justiz, der wie Chronik der laufenden Ereignisse einen “leicht marxistisch angehauchten Jargon” aufweist. Seinen Fernsehfilm läßt Handke mit einer langen starren Einstellung beginnen, über die gesellschaftsutopische Sätze geblendet werden, welche die “Chronik” für das Jahr 1969 gleichsam als Wirklichkeit beansprucht:
Alles ist im Umbruch begriffen. Kein Wert wird als gesichert betrachtet, keine Ordnung mehr gilt als endgültig. (…) Eine heilsame Verwirrung hat eingesetzt und jedermann nachdenklich gemacht,
Ziel dieser Veränderungen sei eine “gerechte Aufteilung von Kapital, Grund und Boden, Aufwand und Arbeitskraft…” Die Sätze erinnern an den Aufruf, zu dem der ehemalige Jura-Student Handke seine Rede zur Verleihung des Gerhart-Hauptmann-Preises umfunktioniert hatte:
Auf diese Weise müssen jetzt, das möchte ich sozusagen fordern, nur noch Freisprüche gefällt werden, und ich möchte noch weiter gehen und Steuergelder sparen helfen, indem ich fordere, daß die Gerichte, wenn sie ohnedies nur Freisprüche fällen, abgeschafft werden, daß die Gefängnisse abgeschafft werden, daß überhaupt alle Rechtseinrichtungen abgeschafft werden, daß überhaupt alle dem einzelnen übergeordneten Institutionen des Staates abgeschafft werden!
Diese 1967 öffentlich geäußerte Forderung ist ironisch. Handke wußte sehr gut, daß sie damals nicht realisierbar war und vielleicht nie realisierbar sein würde. Sie ist ironisch, das heißt: aus einer Distanz des Sprechers zum Gesprochenen formuliert, die sich nicht genau vermessen läßt, für die Angesprochenen und das Publikum aber klar verständlich war(und heute wohl teils nicht mehr ist). Auf ähnliche Weise zeigen die Anfangssätze der Chronik der laufenden Ereignisse eine Distanz, die vielleicht noch feiner ist und von keinem Kommentar (wie in der Preisrede) begleitet wird, sondern ausschließlich durch die Häufung von sozialistisch angehauchten Modellsätzen entsteht. Nimmt man Handkes Forderung nach Abschaffung der gesellschaftlichen Institutionen trotzdem ernst, also wörtlich, dann verbirgt sich hinter seiner zeitgeistbedingten Affinität zu sozialistischen Strömungen ein Individualanarchismus, der sich in späteren Schaffensjahren verstärken sollte, ohne daß jene – im allerweitesten Sinn – sozialistischen Hoffnungen auf ein neues, menschenwürdiges Gemeinwesen jemals ganz gekappt würden. In Handkes Partisanenstück Immer noch Sturm drängen sie 2011 wieder einmal in den Vordergrund, werden aber auch dort durch eine gewisse Skepsis gezähmt.
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VERFREMDUNG ALS KRITIK
Die Verfahren, die Handke in seinen sprach- und gesellschaftskritischen Texten zwischen 1967 und 1972 anwendet, könnte man unter dem Begriff “Verfremdung” zusammenfassen. Wie in den Texten mit dem Wort, im stummen Theaterstück mit den Gesten, so geht Handke im Film mit den Bildern verfremdend um. Die Nähe zu Brecht, von dem er nach eigenem Bekunden einiges gelernt hat, liegt vor allem in diesem darstellungstechnischen Bereich, kaum aber im ideologischen. Was als natürlich erscheint, zeigt uns der Autor als etwas Gemachtes: diesen Aspekt, dieses Ziel des Verfremdens hebt Handke in dem Aufsatz Straßentheater und Theatertheater hervor.
Das Erstarrte erscheint sprachlich, aber auch biographisch als Formel oder Modell, als Muster oder Genre, und genau dafür interessiert sich Handke, einerseits mit spürbarer Neugier, ja, sogar mit einer Art Wohlwollen, letztlich aber doch mit dem Wunsch, “dem genrehaften Schauen der Leute ein Schnippchen zu schlagen”. Solche Schnippchen, “jähe Finten”, “formale Schocks” kann man in Chronik der laufenden Ereignisse am laufenden Band erleben. Was wir sehen, ist eine Folge von Nummern, von Tricks, kleinen Kunststücken der Bloßstellung, die wie im Zirkus oder wie in der Slapstickkomödie aufeinander folgen. Häufig werden Bild und Ton, Gesichtsausdruck und Sprechinhalt dissoziiert, einzelne Szenen werden aus dem gewohnten Kontext genommen und in einen ungewohnten gebracht, eine Unterhaltungssendung wird mit wissenschaftlichem Ernst vorgetragen, und die aufs äußerste reduzierten Biographien bei der Vorstellung einer Art Experten- oder Mächtigenrunde zeigen schlagartig die Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Militär.
Manchmal ist der Effekt dieser Verfahren nicht viel mehr als ein Jux, der sprühenden Spiellaune des frühen Handke geschuldet; in anderen anderen Fällen geht es ihm ganz klar um die Demaskierung gesellschaftlicher Strukturen. Eine Schauspielerin spricht im Dialog betont langsam, ihr Partner in normaler Geschwindigkeit – das genügt, um einen Verfremdungseffekt hervorzurufen. Auf der verbalen Ebene kommt es zu Permutationen, die einen versteckten Sinn des Gesagten hervortreten lassen; es kommt zu Inversionen, die man landläufig, in der Alltagskommunikation, mit dem Vorwurf “Du verdrehst mir die Worte im Mund!” zu kommentieren pflegt (genau das sagt Libgart Schwarz am Ende einer solchen Permutation zu Rüdiger Vogler). Das Wort im Mund umdrehen, den Text im Kontext, das Wort im Satz, das Bild in der Sequenz – und es dann auch wieder zurückdrehen, Überraschungseffekte mitunter gerade durch die Erfüllung und Übererfüllung eines Musters erzielen: das ist die Intention Handkes in dieser Schaffensperiode.
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VERFAHREN UND GENRE
Als Umdrehung – Inversion – hat Handke übrigens auch das Schema des Kriminalromans aufgefaßt, als er es in Der Hausierer zugleich erfüllte, kommentierte und dekonstruierte: “Die Ordnung spitzt sich zu”, sie “erscheint (…) geradezu als Unordnung.” Die Erzählung der Störung der gewohnten Ordnung durch den Kriminalfall verfremdet diese Ordnung, bis zu dem Punkt, wo sie schließlich wieder eingerenkt, die Inversion rückgängig gemacht ist.
Alles ist in Ordnung, und wenn es nicht in Ordnung ist, wird es jedenfalls nicht mehr beschrieben,
heißt es im letzten Erzählerkommentar auf der letzten Seite des Buchs.
Im Aufsatz über die Bedeutung des Genrehaften in Filmen unterscheidet Handke solche Werke, die literarische Erzählweisen naiv übernehmen, sie also unter keinen Umständen bewußt machen, von anderen, denen es genau um diese Bewußtmachung geht. Ein Film kann fertige Modelle “einfach” übernehmen – oder aber “die Geschichte als Modell” gar nicht erst akzeptieren, sondern nur “formale Bildabläufe” montieren. “Sicherlich sind das die wichtigsten Filmer, die für den Fortschritt des Bildersehens sorgen”, setzte Handke damals, Sommer 1968, in Klammern hinzu.
Die Chronik der laufenden Ereignisse wird man in diesem Sinne als Versuch verstehen können, zum Fortschritt des Bildersehens beizutragen, durch Verwendung von Montage- und Inversionstechniken, unter Verzicht auf jede literarische Geschichte, die dem Film einen übergeordneten Bogen gäbe. Verzicht aufs Erzählen – nein, nicht ganz, denn in vielen Einzelszenen werden ja doch wieder kleine Geschichten erzählt, die oft die Form von Sketches haben und manchmal aus einem der in jenen Jahren von Claus Peymann und anderen Regisseuren inszenierten Handke-Stücke stammen könnten: ich denke vor allem an die auf einer Bühne spielende Filmszene mit dem Gewehr an der Wand zu Beginn der Chronik, die wohl auch als Anspielung auf einen eminenten Erzähler, nämlich Iwan Turgenjew, gedacht ist. Zu einem solchen Erzählen ohne Bezugnahme auf fertige Modelle sollte Handke später zurückkehren, in seinen Büchern ebenso wie im Film Die linkshändige Frau.
Im Grunde genommen deutet sich diese Rückkehr schon in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter an, der von Wim Wenders recht literarisch, insofern “naiv” verfilmten Erzählung. Das Krimi-Modell wird hier von der psychisch und sozial bedingten Wahrnehmungsweise der Hauptfigur in den Hintergrund des Sehbewußtseins gedrängt. Einer paranoid verzerrten, vielleicht “verdrehten”, aber auch gesteigerten, intensivierten Wahrnehmungsweise, die andeutungsweise schon Möglichkeiten zu ästhetischen Ekstasen bietet, wie sie in der Stunde der wahren Empfindung Gregor Keuschnig, einer ähnlich gefährdeten Figur, widerfahren.
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DER ÖFFENTLICHE AUTOR
Was die Medienkritik betrifft, so verrät der Wandel der öffentlichen Figur Peter Handke vom provozierfreudigen Pop-Genie, das der widerspruchsvollen Unruhe der Zeit Ausdruck gibt, zum fallweise ausrastenden Nörgler im Elfenbeinturm, den man leider nicht ganz ignorieren kann, mindestens ebensoviel über die Öffentlichkeit als über den Autor. Die Medien um 1968 verdienten zwar die Kritik, die ihnen Handke mit seinem Chronik-Film angedeihen ließ, indem er die bewußtseinseinschläfernde Funktion des deutschen Fernsehens aufzeigte, es war aber doch so, daß sie in ihrer Gesamtheit den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wie auch der verbreiteten, nicht nur minoritären Aufbruchsstimmung eine Publikationsbühne boten.
Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts sind die Massenmedien der westlichen Länder, obwohl vielleicht nie so große Freiheit herrschte wie heute, weitgehend gleichgeschaltet, wie sich auf politischer Ebene besonders in den Jahren der Jugoslawienkonflikte zeigte. Handke, der sich trotz seiner “Wende zur Klassik”, trotz seiner fortschreitenden Distanzierung von der Pop-Szene und den in den Erzählbüchern fiktionalisierten persönlichen “Verwandlungen” eher selbst treu blieb als jene Öffentlichkeit, dieser Peter Handke mußte nun zwangsläufig in eine Außenseiterposition rücken. Daß er sie mit Nachdruck und einer Art Würde behauptet, hängt wohl mit dem Fortbestehen seiner Provokationsfreude zusammen (die freilich nur einen Aspekt einer komplexen Künstlerpersönlichkeit ausmacht). Ruhige, langsame, auf die bloße Anschauung Wert legende Filme wie Das Mal des Todes oder Die Abwesenheit konnten unter den neuen Bedingungen nur auf Unverständnis und Ablehnung stoßen.
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BILDER , GEGENLAUF UND GEGENSCHRIFT
Daß Die Abwesenheit (1992), Handkes bisher letzte Filmarbeit Handkes, hängt vielleicht auch damit zusammen, daß es für einen wie ihn schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die materiellen Mittel aufzutreiben, die für die filmästhetische Umsetzung von Werken der großen Friedensepik nötig wären, die er inzwischen als Schreibender entwickelt hatte. In einer Zeit, in der die medial vertriebenen Bilder ins virtuell und buchstäblich Unendliche zu wuchern begannen und die Trennung von öffentlicher und privater Sphären zunehmend aufgeweicht wurde, schrieb Handke in seinem Elfenbeinbollwerk in Chaville eine behutsam mäandernde Erzählung vom “Bildverlust”.
Schon im Nachwort zu Chronik der laufenden Ereignisse hatte der Fernsehzuseher und Fernsehkritiker Handke sich über “viel zu viele Bilder und Bilderfolgen” beklagt, die ihn erschreckten: Er wolle sich der “masochistischen Bilderlust” nicht hingeben, sondern die Bilder “durch Neubeschreibung gegenläufig machen”. Im Grunde genommen gilt das Programm, die Bilder gegenläufig zu machen, noch für seinem Roman aus dem Jahr 2002, der ihm trotz oder wegen der überwiegend ablehnenden, zum Teil feindseligen Rezeption besonders am Herzen liegt.
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Der Chronist der Niemandsbucht . Peter Handke spricht mit seiner Verlegerin
( Chaville , Sommer 2011 ) | Foto © Leopold Federmair
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LITERATUR
Peter Handke: Der Hausierer. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1967
Handke: Bemerkungen zu einem Gerichtsurteil, in: Meine Ortstafeln Meine Zeittafeln 1967-2007. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2007 (Erstveröffentlichung 1967)
Handke: Straßentheater und Theatertheater, in: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1972 (zuerst 1968)
Handke: Probleme werden im Film zu einem Genre, in: Meine Ortstafeln, a.a.O. (zuerst 1968)
Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1969
Handke: Chronik der laufenden Ereignisse. Frankfurt am Main, Suhrkamp 1971
Handke: Wunschloses Unglück. Mit einem Kommentar von Hans Höller unter Mitarbeit von Franz Stadler. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2003 (Erstveröffentlichung 1972)
Peter Handke, Peter Hamm: Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo. Göttingen, Wallstein 2006
Handke: Die schönen Tage von Aranjuez. Ein Sommerdialog. Berlin, Suhrkamp 2012
Arlette Camion: La chronique des événements courants de Peter Handke: une chronique des images, in: Germanica 14 (1994)
Hans Höller: Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945. Das Werk Peter Handkes. Berlin, Suhrkamp 2013
Hans Höller: Peter Handke. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 2007
Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms, in: Karl Mark, Friedrich Engels: Werke, Bd. 19. Berlin, Dietz 1973
Lothar Struck: “Der mit seinem Jugoslawien”. Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik. Leipzig, Ille & Riemer 2012
Lothar Struck: Der Geruch der Filme. Peter Handke und das Kino. O.O., Mirabilis-Verlag 2013
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DER AUTOR
Leopold Federmair ( Bio- Bibliografie )
Bisher auf in|ad|ae|qu|at ( u. a. )
- zu Peter Handke : Entrückung – Fabjan Hafner auf den slowenischen Spuren Peter Handkes | espace d’essays |
- zur japanischen Kultur und Literatur
- Tokyo – Fragmente
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