Das letzte halbe Jahr ging ich nicht mehr hin. Ich hatte die Nase voll. Ich war sitzen geblieben in der 11. Klasse, eine ganz und gar unnötige Geschichte, wegen einem Ungenügend im Leistungskurs Bio, einem Ungenügend in Philosophie sowie einem Ungenügend in irgendeinem anderen beknackten Nebenfach, Sozialkunde glaub ich, das von einem lockigen Sozialkunde-Jesus in Jesuslatschen gegeben wurde - also, was sollte ich noch in der Anstalt?
Am Ende der Sommerferien hatte ich die letzte Chance versemmelt, die Nachprüfung, wobei es schon gereicht hätte, in Bio auf eine 4 minus zu kommen und ich wäre doch noch versetzt worden, doch Vogel-Uli, der hagere Bio-Pauker, konnte mich auf den Tod nicht ausstehen, "Glumm, Ihre ausgeprägte Ahnungslosigkeit erstaunt", und verweigerte mir das Upgrade, obwohl eine beisitzende Bio-Lehrerin mir im Nachhinein unter der Hand zu verstehen gab, dass meine Leistung an diesem Tag mindestens einer Vier entsprochen hatte.
In der neuen Klasse kam ich nicht zurecht, mir fehlten die bekannten Gesichter, die mich von der Sexta an begleitet hatten. Ich war schon früh ein Gewohnheitstier. Ich gewöhnte mich an alles, auch an die falschen Sachen, und ich vermisste irgendwann auch alles. Ein Wesenszug, der schnurstracks in den Bankrott führt oder an die Spitze der Bankrotteure.
Die neuen Klassenkameraden konnten mit mir auch nichts anfangen. Und die neuen Lehrer hassten mich allein schon deshalb, weil ich sitzen geblieben war und nun in ihrer Klasse saß, mit meiner ganzen die Atmosphäre verpestenden Passivität, wie Vogel-Uli seine Kollegen vorgewarnt hatte - kurzum, nichts ging mehr auf dem Gymnasium, und ich nicht mehr hin.
Ein halbes Jahr lang hielt ich noch das Bild des braven Schülers aufrecht, ganz wie im Spielfilm, wo der Ehemann längst seinen Job verloren hat, aber aus Angst vor der enttäuschten Ehefrau Tag für Tag pünktlich das Haus verlässt und bis vier Uhr die Zeit im Puff vertrödelt.
Morgens stand ich auf, wenn auch selten zur ersten Stunde, packte ein paar Schulsachen ein, nicht zu viele, damit die Tasche nicht zu schwer wurde, dazu ein Apfel und zwei Butterbrote, und machte mich auf die Socken.
Ich strich durch die Plattenabteilungen der großen Kaufhäuser, ich saß in den stadtnahen Malteser Gründen auf der Bank. Ab zehn, halb elf war ich im Stonns Fuot, einer zweistöckigen winzigen Hardcorekneipe am zentralen Graf Wilhelm-Platz, gleich neben dem Tchibo. Ab und zu trank ich Bier, doch meist hockte ich einfach am Tresen und blickte gelangweilt zur Glastür hinaus. Nie wieder war ich so gelangweilt wie vormittags im Stonns. Ich wartete, dass irgendwelche Bekannte und Freunde zur Tür reinkamen, ich wartete, dass James, der vollbärtige Wirt, gute Musik auflegte, ich wartete zuletzt sogar auf den dicken Hellmann, der mit seinem schmuddeligen fetten Hintern noch so eben auf den Hocker passte und das Bild eines unrasierten dicken Ungeziefers abgab.
Ich wartete, dass es Mittag wurde, Schulschluss, und ich endlich nach Hause durfte.
So ein Schwachsinn. Ich hätte meinen Eltern doch sagen können, liebe Leute, ich will nicht mehr zur Schule gehen, ich will was anderes machen, doch genau hier war der Pferdefuß: Was denn anderes, bitteschön?!
Ich hatte keine Ahnung.
Also tat ich weiter so, als ob, und übte fürs Leben. Wenn ich ein bißchen zu kiffen hatte, verdrückte ich mich ins Grüne. Einmal saß ich auf der großen Wiese, die dem Bauern Pott gehörte und Potts Wiese hiess. Von Potts Wiese aus hatte man einen grandiosen Panoramablick über die Wupperberge, bis rüber nach Wuppertal-Cronenberg und nach Remscheid. Ein warmer Wind strich durchs hohe Gras, Pferde schnaubten in der Nähe. Ich fühlte mich blass in der Sonne, und seltsam frei. Ich holte ein schwarzes Vokabelheft hervor und begann zu schreiben.
“Ringsum entblößen sich die Käfige..” schrieb ich, so begann ein Gedicht. Das war die erste Zeile. Das war der Tag, an dem ich beschloss, Dichter zu werden. Meine Eltern wussten nichts davon, dass ich ein Dichter war, der nicht mehr zur Schule ging. Dass ich schon seit Monaten nicht mehr dagewesen war. Ich war volljährig, ich hatte meine Entschuldigungen eine Zeitlang selbst geschrieben, dann hatte ich es gelassen.
Als der graue Brief vom Gymnasium kam, "Ihr Sohn Andreas fehlt unentschuldigt seit soundsoviel Wochen und wird der Schule verwiesen", fielen meine Eltern aus allen Wolken, schlugen hart auf. Warum hast du nie etwas gesagt? Warum bist du so ein Heimlichtuer geworden? Nimmst du Drogen? Was soll werden? Vielleicht ein Dichter, sagte ich. Ein Schreiber.
SCHREIBEN? rief Vater.
Er war nicht mal richtig böse geworden, es war nur, er hatte mich nicht verstanden. Vielleicht auch nicht, sagte ich. Vielleicht auch Trinker. Ich brauche erst mal Ferien. Ich fahre weg. Nach Portugal. An die Algarve. Wo es schön warm ist. Hier ist auch warm, sagte Mutter. Ja, aber nicht so schön warm. Du redest Unfug, sagte Mutter. Karlos fährt auch mit, sagte ich.
Karlos war schon lange aus der Schule raus und schlief bis mittags. Manchmal kam er den ganzen Tag nicht aus dem Bett und hörte Klaus Kinksi-Schallplatten in der verqualmten Mansarde, die er bei seinen Eltern bewohnte. Manchmal las er meine Gedichte. Er schrieb selber auch welche. Gut. Es konnte losgehen.
Bloß - was?
Manchmal saßen Karlos und ich schon nachmittags in den Malteser Gründen, zwischen verbeulten Zechern mit klumpigen roten Clownsnasen, und tranken Bier. Eine Palette Karlsquell, die übliche Einheit, 24 Dosen, die billigste Marke.
Wir lernten eine Menge schräger Figuren kennen, so wie den zwei Meter großen Hennes. Ein herzensguter Penner um die Fünfzig, der noch das letzte Stückchen Fleischwurst mit dir teilte. Wenn er voll war, und er war dauernd voll - gefangen im Korntext - begann Hennes Lieder aus der Heimat zu schmettern, und zu schunkeln.
Er stammte von der Mosel, war auf Weinfesten groß geworden. Das mit dem Schunkeln wurde schnell zum Problem, weil er mit seinen wuchtigen zwei Metern und Pranken wie Pizzatellern alle Mann mit sich in die Tiefe riss. Mehr als einmal purzelte alles wild durcheinander, Weinflaschen stürzten zu Boden und zerschellten, es gab Tränen und blaue Flecke.
Hennes hatte einen Pennplatz irgendwo hinter Wermelskirchen, kilometerweit von Solingen-Mitte entfernt. Oft schaffte er es abends nicht bis zum Unterschlupf, einfach weil kein Bus mehr fuhr und sich niemand erbarmte, ein stinkbesoffenes Riesenbaby mitzunehmen, das lallend am Strassenrand hockte. Dann fiel er einfach zur Seite und schlief am Strassenrand ein.
Auch wenn Hennes das Kreuz eines Preisboxers hatte, er war lammfromm. Wenn er von seiner Kindheit erzählte, flennte er wie ein Bengel, der etwas angestellt hatte und es nun der Mutter beichtete. Ich konnte nicht genug davon bekommen, ihn anzusehen. Er hatte große treue Hundeaugen und mochte es, die Leute in seine gewaltigen John Wayne-Arme zu schliessen und an sich zu drücken.
Uff, stöhnte Karlos und duckte sich gekonnt unter ihm weg.
Einmal zeichnete sich ein frischer Pissfleck auf Hennes' Hose ab, er wurde größer und größer, fast so groß wie ein Basketball. Wisst ihr, warum wir Männer lauter Unfug machen? krächzte er. Warum soviel Unglück und Leid in der Welt ist?Weil alle Männer Weltmeister werden wollen! Keiner will Vize sein!
Geschlossen prosteten wir dem Champ zu.