Karlos, etwa 1983 (Foto: Ralf Schneider)
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Ich kannte eine Menge Leute, die gern lange im Bett blieben, richtige Penntüten waren das, die keine Lust hatten aufzustehen und das warme Kissen gegen eine Welt voller Stundenpläne einzutauschen, doch was mein alter Kumpel Karlos früher in Grund und Boden geratzt hat, das war allerhand, das war legendär, das endete selten vor zwei, halb drei am Nachmittag. Niemand schaffte es die Nacht jemals so breit zu treten und in die Länge zu ziehen wie mein alter Kumpel Karlos.
Er machte Chewing Gum aus der Nacht, er verbog die Zeit, wie es ihm in den Kram passte, er machte einen Riesenschlenker um den helllichten Tag, er baute ein Wurmloch an, um noch ein weiteres Extra-Stündchen rauszuholen, er rauchte beim Schlafen, er war der erste deutsche Schläfer.
Ein zäher Hund.
Die Eltern wohnten in einem efeubewachsenen Haus gegenüber der Evangelischen Stadtkirche, an deren Glockenturm dieses Bibelwort in Messing prankte, das einen jedes Mal anstarrte, wenn man aus dem Fenster blickte:
O LAND
LAND
LAND
HÖRE DES
HERRN WORT !
Da Karlos noch bei den Eltern wohnte, blieben Komplikationen nicht aus. Besonders der Vater kam mit seinem Ältesten nicht klar und hätte ihn manches Mal gern rausgeschmissen. Einmal hörte ich, wie eine seiner Standpauken mit einem gurgelnden “.. dann verreck doch!” endete.
Karlos war spät in der Nacht nach Hause gekommen und hatte im besoffenen Schädel das Klo nicht gefunden, worauf er kurzerhand den Speicher zum Pissoir erklärte. Das brachte das Fass, sozusagen, zum Überlaufen.
“Nicht nur, dass der Taugenichts bis in die Puppen pennt, jetzt schifft er auch noch den Speicher voll! Mach dass du verschwindest!!”
Doch da war Karlos’ Mutter vor, ein rundliches kleines Persönchen, das die Hand über die Söhne hielt. Im Hochsommer flanierte sie gern unterm Sonnenschirm durch die Parkanlagen der Stadt, ein schinantes Lächeln im Gesicht. Sie erinnerte an eine Figur aus den rätselhaften Klavierstücken von Erik Satie. Kein Wunder, dass Karlos’ drei Jahre jüngerer Bruder schon früh Talent zum Klavierspielen entwickelte und später Kirchenorganist wurde.
Meist war es auch die Mutter, die mir die Haustür öffnete, wenn ich Karlos am Nachmittag abholen wollte, und noch bevor ich hallo sagen konnte, flüsterte sie mit leicht vorwurfsvoller Stimme, und immer auch ein wenig neckisch, so als trüge sie Sonnenschirmchen und Nonnentracht ohne was drunter, “psst..! Der Karlos schläft noch.”
“Gut”, antwortete ich, “ich geh mal gucken.”
Vermutlich wäre es ihr lieber gewesen, ich hätte ein Stündchen hinterm Haus gesessen, eine Zitronenlimonade getrunken und duldsam darauf gewartet, dass Karlos von ganz allein wach würde, doch ich stapfte schon die knarrende Treppe hoch bis unters Dach, wo Karlos eine von zwei winzigen Kammern bewohnte. (In der anderen waren seine Pornohefte deponiert.)
Schräge Wände, nikotingetränkte Jalousie. Ob es in Karlos’ Zimmer einen Teppich gab, blieb unklar, der Boden war übersät mit Playboy- und Penthouseheften und leeren Kippenschachteln.
Karlos hatte diesen Tick. Wenn er eine neue Packung Marlboro aufmachte, entfernte er das Zellophan, nahm sämtliche Kippen heraus und stopfte sie falschrum in die Schachtel zurück, mit dem Filter nach unten. Es machte keinen Sinn, es sah aus wie Jesus am Kreuz, aber den Kopf am falschen Ende, und er konnte es nicht lassen. Hätte er im Suff jemanden erschlagen und aus Versehen die Kippen am Tatort zurückgelassen, sie hätten ihn sofort und unmissverständlich verraten. Das gab es rauf bis nach Pjöngjang nur einmal, diesen Tick.
Es war brandgefährlich.
“Sauf wenigstens nicht so viel”, riet ich ihm, “damit du nicht jemanden totschlägst im Suff, irgendwann”, doch er war ein sturer Bursche, der gern mal ausschlief und nur wenige Lieblingsplatten hatte, darunter die Sprechplatten von Klaus Kinski.
Auf den letzten Treppenstufen hörte ich schon Kinskis kratzig-verruchte Stimme, stets auf dem Weg ins Bordell, um etwas Zunge zu ergaunern, Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, Karlos’ erklärte Lieblingsplatte.
Lange vor unserer Zeit war Kinski mit Rezitationsabenden durch die Republik gezogen. Er hatte große Hallen gefüllt mit Texten von Rimbaud und Francois Villon, es war Kinskis beste Zeit gewesen.
Es war großartig. Er wimmerte, er flehte, er bellte, er mordete. Er klang wie ein Irrer, der zugeschaltet aus dem späten Mittelalter zu seinen Fans sprach, live aus stinkigen Pariser Spelunken, wo er als gebrochene Bestie um Liebe bettelte, um Verzeihung und Absolution.
Karlos war ein bedingungsloser Verehrer von Klaus Kinski, und da wir damals viel Zeit miteinander verbrachten, durchlitt auch ich Villons Erdbeermund viele Dutzend Male, auch ich konnte das verkratzte Album beinah auswendig mitbrüllen, mitmorden, mitbetteln, bis die Scheibe eines Tages eine Schramme zuviel abbekam und materialmüde auseinanderbrach.
Oben angekommen, stieß ich die Zimmertür auf. Karlos lag im Bett, sein Gesicht verschwand unter der Daunendecke. Nur die Nasenspitze lugte hervor, rot und cholerisch, ein gewaltiges Teil, mit dem man nach Würmern graben konnte. Mehr war nicht zu sehen von Karlos.
In der engen Dachkammer stank es bestialisch nach Socken und Schnaps, kalt und organisch wie im Hundezwinger. Wobei Qualität und Intensität des Schnapsgestanks davon abhängig waren, was am Vorabend durch Karlos’ Kehle geflossen war. Stank es nach modernder Baumrinde, war es vermutlich Amaretto gewesen, müffelte es nach geschmolzenen Fliegenfängern, Metaxa.
In jedem Fall blieb einem die Luft weg. Das war nicht der Vorhof der Hölle, das war die Hölle, das war Rimbauds Une Saison en Enfer, und da lag der Höllenhund in seinem weichen Kerker, und er schnarchte wie ein Lastesel.
“Ist Karlos schon wach?” hörte ich seine Mutter von unten herauf rufen, durchs Spalier der Treppengeländer. “Er soll runterkommen, Essen ist fertig!”
Kleine Pause.
Dann zu mir: “Willst du einen Happen mitessen?”
Ich antwortete nicht, von Karlos kam auch keine Reaktion. Dass es Mittagszeit war, bedeutete nicht zwingend, dass Karlos wach war. Auch dass die knorrige rote Nase aus den Federn quoll, hatte nichts zu bedeuten. Es war möglich, dass er längst wieder eingepennt war, nachdem er sein Lieblingsalbum aufgelegt hatte, sein Mantra, Francois Villons Erdbeermund, das er selbst noch im Schlaf inhalierte.
Damals war es schwer in Mode, vor Verlassen des Hauses ein dürres gelbes Reclam-Heftchen in die Gesäßtasche zu stecken, aus der Reihe Universal-Bibliothek mit Texten von Dickinson, Poe oder Beckett. Unser gemeinsamer Freund Schnaat etwa bevorzugte Arthur Rimbauds Kracher Eine Zeit in der Hölle/Une Saison en Enfer, und zwar die zweisprachige Ausgabe Deutsch/Französisch, aus der man sich abends am Tresen gegenseitig vorlesen konnte.
Einst, wenn ich mich recht erinnere,
war mein Leben ein üppiges Fest,
da öffneten sich alle Herzen,
da flossen alle Weine..
Was für herrliche Worte, besonders wenn man selbst erst neunzehn ist und die Vorstellung, dereinst auf sein Leben zurückzublicken, noch sentimentale Verzückung auslöst, weil das Alter noch weit, sehr weit weg ist, in einer anderen Dimension, wo du noch nicht gehörnt bist vom schmutzigsten aller Nebenbuhler, dem Verfall.
Auch wenn es auf Kinskis Erdbeermund geradezu zarte und klare Passagen gab, wie in der Kindheit, wenn man den Schorf vorsichtig von der Wunde knibbelt und darunter schimmert schon der Glanz einer neuen rosa Haut durch, oft deprimierte mich die Stimmung auf der Platte, besonders wenn draußen die Sonne schien und die Menschen heitere Gesichter aufsetzten.
Das war voll der Gegensatz.
Sobald Karlos wach war, die Bettdecke fortstieß und mürrisch Richtung Scheißhaus tapperte, (“mal schön auspennen, nee, ist nich drin in dem Puff hier..”), nahm ich das Sprechtheater vom Plattenteller und legte eine andere Scheibe auf. Was so einfach nicht war, bei seiner spärlich bestückten Plattensammlung..
The Best of The Monkees, Ernst Jandl.
Ich gab es auf. Ich disponierte um. Ich zog die alte Klampfe unterm Bett hervor, eine verstimmte und nicht mehr ganz bundreine Klira, die am Baggerloch zu lange am Lagerfeuer gelegen hatte, aber es reichte für zwei, drei knackige Chuck Berry-Riffs, die Schnaat mir Jahre zuvor beigebracht hatte, with no particular place to go..
Und wenn Karlos endlich vom Pott kam und meinen Duckwalk an der schief tönenden Wandergitarre sah, war er ruckzuck in den Klamotten, ja, der lahme Kerl war ausgehfertig in nicht mal einer Minute, inklusive brennender Kippe im Hals,
“Mensch, Glumm! Lass uns endlich losmachen!”
