Quantcast
Channel: litblogs.net - aktuell
Viewing all articles
Browse latest Browse all 6060

in|ad|ae|qu|at : wespennest 166 | Rezensionen zu Barbara Köhler und Antonio Fian

$
0
0

||| DISCLAIMER | WESPENNEST 166 : SPIELFORMEN DES WIDERSTANDES | WESPENNEST 166 – REZENSIONEN | KLAUS BONN ÜBER BARBARA KÖHLERS NEUFUNDLAND& 36ANSICHTEN DES BERGES GORWETSCH | KLAUS KASTBERGER : ALLES GLÜCK DIESER ERDE | WEITERE REZENSIONEN | HINWEIS : PRÄSENTATION | RELATED

wespennest_buch | espace d’essays |

Literaturzeitschriften

DISCLAIMER

Neue Bücher sind für in|ad|ae|qu|at keine schieren Objekte der “Rezension” . Als Herausgeber von Primärtexten und Autorenessays wollen und dürfen wir nicht werten .

Anderseits gibt es in Literaturzeitschriften eine Reihe sorgsam betreuter Rezensionen , welche eminent von literarischem und dokumentarischem Interesse sind . In Kooperation mit der Zeitschrift “wespennest” ( je nach aktueller Ausgabe ) geniesst in|ad|ae|qu|at das Privileg , Online- Versionen der Buchbesprechungen publizieren zu dürfen und somit auch an gut auffindbarer Stelle zu archivieren . Selbstverständlich wird das Einverständnis der jeweiligen Rezensentinnen und Rezensenten zuvor eingeholt .

Gewonnen wäre damit eine Repräsentanz avancierter Literaturkritik im WWW : im Sinne eines nachhaltig sich fortschreibenden Kommentars zum literarischen Leben , welcher dem Rattenrennen des Feuilletons um die schnellstmögliche Rezension dicht an der Sperrfrist einen ruhigen und geduldigen Scharfblick entgegen setzt .

|||

WESPENNEST 166 : SPIELFORMEN DES WIDERSTANDES

Von kritischem künstlerischen Aktionismus über gemeinschaftliche Pflege und Nutzung von Gütern bis hin zur Verweigerung von Konsum und dominanten Alltagspraxen – in Zeiten der Postmoderne sind selbst die Momente des Widerstands vielfältig und oft auch zu Formen der Selbstdarstellung geworden. Der aktuelle Schwerpunkt untersucht, ob Widerstand, lange Zeit existenzielle Kategorie der Selbstverteidigung und Selbstbehauptung, in unserer überforderten Gegenwart hierzulande noch wahrhaft provokative Macht entfalten kann.

Zum Inhalt im Einzelnen siehe die entsprechende Wespennest- Homepage . Unser Tip : Brigitte Kratzwald : The power to refuse – Commons und Widerstand ( Leseprobe als PDF ) , Thomas Stangl : Revolution und Sehnsucht. Im Möglichkeitsraum des Vergangenen sowie Marcel Beyer : Wirkliches erzählen

|||

WESPENNEST 166 – REZENSIONEN¹

KLAUS BONN ÜBER BARBARA KÖHLERS NEUFUNDLAND& ANSICHTEN DES BERGES GORWETSCH

JENSEITS DER GEOGRAPHIE

Der Lesende hatte sich getäuscht, ohne dabei aber enttäuscht worden zu sein. Neufundland gibt sich nicht als eine zusammenhängende Reiseerzählung über jene Insel im Nordosten Kanadas, wie der Lesende sich das so vorstellte. Nach identitätslogischer Manier hatte er in Neufundland nur den Ländernamen gesehen, nicht das Wort in seiner Polysemie aufgefächert.

In einer Art Vorspann geht Barbara Köhler tatsächlich auf den Namen der Insel ein, das Land, das Neue und den Fund. “Suchen”, heißt es, “hat ein bestimmtes Ziel, aber finden kann man Alles Mögliche, die Verbindung ist selten linear.” Fast überall in den Schriften aus den Jahren 2002 bis 2011, die der Titel umfasst, geht es um ein Zusammenwirken von “ANALYSIS” und “ALLYSIS”, ein poetologisches Verfahren, das Köhler an Penelopes Web-Arbeit als Allegorie des Lesens verdeutlicht, “ein definitorisches Zerlegen des Gewebes in seine Bestandteile” einerseits, zugleich aber “das Vervielfältigen von Zusammenhängen, ihre Pluralisierung”.
Bereits Aufgelöstes wird “immer wieder neu und anders verknüpft, verwebt”, die Analyse wird in einen Prozess eingebunden, “der zu keiner finalen Lösung führt”, und doch “zu einer Kette” (álysis) von Iterationen, Wiederholungen und Veränderungen”. Nirgendwo ist das vielleicht so augenscheinlich wie in den Teilstücken “Die Bildgöttin” und “Das Gegenspiel”, die der Auseinandersetzung mit dem Spiel-Feld des homerischen Epos, einer Topografie jenseits der Geografie zugetan sind.

ANDERWELT

Neufundland, auch, und dann doch, eine Erzählung von einer Reise, die Köhler im Herbst 2004 unternommen und “Home Story” betitelt hat. Noch zwei weitere, im weitesten Sinne onomastische Ortsbekundungen sind in der Rubrik “Landnamen” untergebracht: “Northern Lines”, Camden Town, Kentish Town, Hampstead Heath und die verzweigte U-Bahnlinie “Northern” betreffend, eine “Anderwelt”, die der Lesende bei einer London-Reise selbst als insulare Gegenwelt zum urbanen Einzugsgebiet erlebt hat, und “Inseln, Gelegentlich”, zu einem entlegenen kleinen See bei Duisburg, “der eine Art Insel ist, mit dem komischen Namen Entenfang, dem kuriosen Anklang zwischen Ente und Anfang”. Auch Köhlers 36 Ansichten des Berges Gorwetsch ließen sich diesen Reiseerzählungen zuschlagen, sind aber als eigenständiges Büchlein erschienen; auch dort die Rede von einer “Anderwelt”.

FUNDSTÜCKE

Neufundland: Es sind insgesamt sieben Abteilungen mit Fundstücken, die das Buch umfasst. “Tierwörter” etwa bietet die Lektüre, nicht Interpretation, eines Gedichts von Meret Oppenheim und eine grammatische, aussagenlogische und quantenmechanische Betrachtung des Märchens von “HASE” und “IGEL”, wobei “Eindeutigkeit” (bei dem Wort HASE) auf die “Unbestimmtheitsrelation im eigenen Namen” (bei dem Wort IGEL) trifft.

Neben “Satzbauten” und “Cat States”, wo es unter anderem um Schrödingers Experiment geht, findet sich in “Gegensätze” einer der längsten Beiträge des Bandes, ein Vortrag im Rahmen eines Symposiums “Zum Satz”. Vorsatz, Satz, Gegensatz und Nachsatz sind hier vielleicht doch zu sehr in “aussagenlogische Kalküle” eingebunden, die Sätze wirken, der Text wirkt auf den Lesenden zu sehr gedrechselt, wenngleich er einem Satz wie dem folgenden weder seine Berechtigung noch seine Zustimmung absprechen mag: “Der satz tut, als könnte er ohne gegensatz existieren, als könne alles ohne gegensatz sein, gäb es für alles einen grund, jenen zureichenden grund, eine letzte, erste voraus-setzung, auf die sich alles zurück führen ließe und aus der alles folgte, ob wir sie nun kennen oder nicht, noch nicht, ob wir sie urknall nennen oder Gott.”

Es würde weit über den Rahmen dieser Besprechung hinausreichen, wenn der Lesende sich auf Köhlers “weibliche” Revision der kantischen Satzbildung einließe oder auf die “rein grammatische” Weiblichkeit der Frau Minne, die “derart zur Minna gemacht” wurde, oder die Differenz zwischen “wovon” und “worüber” im Rückblick auf Wittgensteins berühmten letzten Satz seines Tractatus. Nicht immer gelang es dem Lesenden, aus der Fülle der poetisch produktiv gemachten Paronomasie hier und da keinen Kalauer hervorlugen zu sehen: “UND WAS DENKT DER VERSTAND VON KANT? Der hält die Agentenstelle vakant, [...]” oder “[Ein ich, das SIE sein kann, nicht allein ER, und so auch das symbolische zu fall bringt; nicht bloß zu phall - zum zufall.]”

ÜBER- UND NEBENSETZEN

Der mittlere Teil von Neufundland, fast möchte ihn der Lesende sein Kernstück nennen, widmet sich der Übersetzungsarbeit, vor allem Gertrude Stein und Elizabeth Bishop. Der Lesende, der selbst einer Übersetzertätigkeit nachgeht, kann dem, was Barbara Köhler zum Übersetzen und Übertragen sagt, uneingeschränkt zustimmen: “Der Übersetzer, der den satz vom stuhl im anderen sprachraum exakt so plaziert, dass er dem blick eines darauf platznehmenden lesers auf zb ‘die wirklichkeit’ ein gleiches (ein identisches, 1:1) bild bietet? Keine abwegige vorstellung; so wird das oft und gern gesehn. Im rahmen einer flächigen geometrie.”
Wer überträgt, nimmt etwas auf sich, “um es weiterzugeben (vielleicht)”. Das Wort “Nebensetzen” für die Arbeit des Übertragens von einer in die andere Sprache jenseits aller identitätslogischen Erwägungen gibt ein schönes Bild ab für das, was Köhler im Falle Steins selber vorführt. Für die Stanzen VI und VII bietet sie für jeweils einen englischen Satz sechs deutsche Varianten an und eröffnet so einen Möglichkeits-, auch Spielraum des Originals in der Zielsprache.
Nebensetzen – vielleicht wird etwas auch daneben gesetzt bei dieser Arbeit, geht etwas daneben; jedenfalls werden Sätze versetzt und, gegebenenfalls, zersetzt. Es wäre lohnend, Köhlers Äußerungen zur Übertragung mit denen von Esther Kinsky und Zsuzsanna Gahse zu vergleichen, doch nicht hier.

Eines noch sei zu Neufundland gesagt, hier. Der Untertitel des Buches weist die “Schriften” als “teilweise bestimmt” aus. Eine gut gefüllte Audio-CD versammelt die meisten kürzeren Texte, die von der Autorin selbst eingesprochen sind. Den Lesenden, der dann zum Hörenden wurde, hat die Stimme, das Ein und Aus ihres Atems, die Intonation, Akzentuierung der Worte und der poetische Rhythmus auch bei den anscheinend weniger poetischen Texten wahrhaft gerührt und den gelesenen Text noch einmal bewegt, gedreht, geweitet.

GORWETSCH

Während die Texte aus Neufundland teilweise bestimmt sind, geben sich die Textstücke aus 36 Ansichten des Berges Gorwetsch als teilweise, ja großenteils, bebildert. Fotos und Texte stammen aus den Jahren 2007 bis 2012, als Barbara Köhler Trägerin des Spycher Literaturpreises von Leuk im Wallis gewesen ist. Die Fotos, erklärt die Autorin, seien “beiläufig” entstanden und “zu den Texten in kein illustratives Verhältnis gestellt, eher als Pendants”. Und doch, so der Eindruck des Lesenden und Betrachters, doch sind manche Fotos auf verblüffende Weise bestimmt, nicht dass sie sprächen, aber die Zeilenfügung der Worte überträgt sich manchmal äquivalent auf die Komponenten des fotografischen Bildes.

36 Ansichten, damit ist freilich Hokusais Serie von Holzschnitten des Berges Fuji die Referenz erwiesen. In ihrer nachwörtlichen Zugabe spricht Köhler von jenen Bildern “der fließenden, driftenden, einer vergänglichen, gegenwärtigen Welt”; die Werke des Japaners seien “Bilder ohne Schatten, auf denen, in Gestalt von Wolken und Nebelbänken, sich unauffällig die Leere ausbreitet, Nichtsichtbarkeit in den Blick gerät, Platz nimmt”. Der Hausberg von Leuk – seltsam, dass Köhler bei ihrem onomastisch ausgerichteten Schreiben den Namen nicht befragt -, der Gorwetsch zählt zu den “Schattenbergen”. Licht und Schatten, die Ingredienzen des fotografischen Schwarzweißbildes, und die “Schatten der Wörter” da, wo sie “ineinander zu greifen scheinen”: “La Berge, die Berge, die Herberge, l’auberge”, Sonne und Wolken, Standortwechsel öffnen der Betrachtung einen Raum der Verwandlungen, lassen mitunter den Eindruck entstehen, dass auch Berge vergehen.

MÖGLICHKEITSRAUM

Das Fließende und das Flüssige, nicht zuletzt die das Tal zerteilende Rhône und das Wasserleitsystem der Bissen und Suonen, die Sprachvermischung und die Rede vom “Walliser Ozean” verkehren die gängige Vorstellung von der Bergwelt als felsenfest, unumstößlich und beständig. Das panta rhei des Heraklit, so kommt es dem Lesenden vor, grundiert, unausgesprochen, dieses wundersame, wunderbare Bändchen. Die Sagen von untergegangenen Ortschaften und einem Bergsturz als auch die Legende von der in den Berg gehenden Heiligen Barbara, die Barbara Köhler erwähnt, scheinen dies zu bezeugen.

36 Ansichten– nicht nur Hokusais Holzschnitte mögen als Folie für den Titel des Büchleins gedient haben. Dem Lesenden fallen Brigitte Kronauers Fünf Möglichkeiten in die Stadt und wieder herauszukommen (1974) ein; auch dort öffnet sich ein Möglichkeitsraum jenseits eingeschliffener, zweidimensionaler alltäglicher Verhaltensmuster.

Vieles gäbe es noch zu sagen zu diesem kleinen Buch, das dem Lesenden fast als das größere Neufundland vorkommt; zum Bergbau im Ruhrgebiet, dem Wort “Berge” für das “‘verkaufsunfähige Nebengestein’, das bei der Kohleförderung anfällt” und das Wort ‘Bergehalde’, das dem Lesenden in einem saarländischen Kohlewald begegnet ist; zur durchgehend neunzeiligen Anordnung der Textstücke, die an Ilma Rakusas 90 Neunzeiler (1997) erinnert und auf die so genannte Spenser-Stanze der englischen Romantik zurückgeht.

Zuletzt aber sei noch auf Thomas Hettches Nachwort zu den 36 Ansichten verwiesen, wo aus einem Interview mit Barbara Köhler zitiert wird, dass “sprachspielerische Verfahren” auf das “Ausbremsen von Intentionalität” abzielten. Das ist eine unbeabsichtigte Anspielung auf jene Täuschung, von der zu Beginn dieser Zeilen die Rede war. “Intentionalität” ausbremsen: hier tut sich ein Feld auf, und der Lesende wäre neugierig, was Barbara Köhler zu den “intentionalen Erlebnissen” und zum “intentionalen Gegenstand” bei Franz Brentano und Edmund Husserl sagen würde, und wie sie es sagen würde.

|||

KLAUS KASTBERGER : ALLES GLÜCK DIESER ERDE

VERSUCHTES GLÜCK

Wikipedia weiß Bescheid: Polykrates, dessen Name jetzt auch im neuen Roman von Antonio Fian steckt, war ein antiker griechischer Tyrann, der um 500 vor Christus die Insel Samos beherrschte. Auf seinen zahlreichen Feldzügen war der blutige Herrscher von maßlosem Glück verfolgt. Eines Tages jedoch riss die Serie und Polykrates fand ein Ende, das so grausam war, dass der Geschichtsschreiber Herodot über die Details den Mantel des Schweigens breitete.

Friedrich Schiller hat dem Schicksal des Mannes eine seiner berühmtesten Balladen gewidmet. Im “Ring des Polykrates” wirft der Tyrann sein liebstes Schmuckstück ins Meer, um seinem Glück ein Opfer zu bringen. Zur Besänftigung der antiken Götter war es dafür aber schon zu spät. Im Bauch eines gefangenen Fisches wurde das goldene Ding wenig später wiedergefunden. Die Hybris des Herrschers, und heute würden wir sagen: sein Übermut, war zu groß und das böse Zeichen besiegelte seinen Untergang.

Dass der Stoff in seiner Bearbeitung zu trocken sei, da er in ihr die ethische Wirkung der Idee so sehr in den Vordergrund gestellt hatte, wurde Friedrich Schiller von seinen Zeitgenossen vorgeworfen. Auf Fians Prosa-Umsetzung in Form eines überaus humorvollen und da und dort geradezu splatter-artigen Romans trifft dies nicht zu. Aus Polykrates ist hier eine Art moderner Zivilisationskrankheit geworden. Das Polykrates-Syndrom nennt Fian sein Buch und meint damit in etwa, dass die forcierte Suche nach Glück oft genau ihr Gegenteil, nämlich die forcierte Produktion von Unglück, hervorruft.

VON DEN FRAUEN

Träger des Syndroms und Hauptheld von Fians Buch ist eine anfänglich recht unscheinbare Figur, die bis dato gar kein Glück hatte. Das Lebenskonzept des Mannes, der sich im mittleren Alter befindet, ist eine Vermeidung: Arthur, so sein Name, hat eine Ausbildung als Lehrer, will aber als Lehrer partout nicht in die Schule gehen. Lehrerinnen aber umgeben den Mann: Arthurs herrschsüchtige Mutter, die jetzt im Pflegeheim lebt, war ihren Schülern eine begnadete Paukerin und auch Arthurs Frau Rita unterrichtet in einem Gymnasium. Noch ungefähr vier Jahre, so meint sie, dann sei sie Direktorin.

Arthur sieht in dieser Art des Bildungswesens für sich keinen Platz. Dem Hohn und Spott seiner Frauen und deren Freundinnen ausgesetzt, verdingt er sich als kleiner Angestellter in einem Copyshop, gibt nebenbei Nachhilfestunden und schickt Gags an alle Talkshows des deutschsprachigen Raums. Keiner der Texte schafft es jemals in ein Programm. Eines Tages nun betritt eine faszinierende Frau den Kopierladen. Mit ihrem grünen Lackledermantel hat sie einen Schwung, den Arthur bisher an sich selbst vollkommen vermisst hat. Die Dinge aber ändern sich und wie durch ein Wunder kommt Arthur tatsächlich an die Frau heran.

AUSTRIAN PSYCHO

Erstes Opfer seines neuen Glücks ist der Ex-Lebensgefährte der neuen Liebschaft. Jener Mann, der im Text nur “Arschloch” heißt und wohl auch eines ist, liegt plötzlich tot in der Wohnung und wird von Arthur in Wild-West-Manier entsorgt. Von einem Moment auf den anderen scheint in seinem Leben Quentin Tarantino oder jemand Ähnlicher die Regie übernommen zu haben.

Eine Art Doublebind des Glücks bringt die Dreiersituation hervor, in der Arthur sich fortan befindet. Die Mutter stirbt im Pflegeheim, ohne dass ihr Sohn sie noch einmal besucht hat. Knapp vor ihrem Ende bringt die alte Dame am Telefon noch dunkle Gerüchte über seltsame Todesfälle im Heim auf, Diebstähle und Erbschleichereien sollen sich dort ereignen. Arthur indes kann sich darum nicht kümmern, mit Rita und seiner neuen Prinzessin ist er genug beschäftigt. So etabliert sich ein Spiel von Heimlichkeit und Aufdeckung, bis eines Tages eine weitere Tote in einer Wohnung herumliegt. Es könnte auch umgekehrt sein, bei Fian aber geht es so herum, dass die Geliebte von der Ehefrau erschlagen wird.

Auch in diesem Fall übernimmt Arthur die Beseitigung der Leiche, wobei die Szene aber diesmal noch weitaus brutaler und absurder ist. In der Badewanne der ehelichen Wohnung zerstückelt er über Stunden hinweg den Körper seiner Geliebten, mit der er knapp zuvor noch den tollsten Sex hatte. Schwitzend und mit Rum abgefüllt packt Arthur die Einzelteile der Frau in Müllsäcke und wirft sie später in den Container vorm Haus.

Nebenan im Wohnzimmer, wo der Christbaum steht, denn es ist Weihnachten, läuft während der ins Endlose gedehnten Tranchieraktion das Weihnachtsoratorium in einer Interpretation von Nikolaus Harnoncourt. Mit diesem Arrangement toppt Fian mühelos die berühmte Szene aus Bret Easton Ellis American Psycho. Über dem Austrian Psycho aber, das der Autor entwirft, schwebt das Polykrates-Syndrom. Auf gut wienerisch könnte man es in den einfachen Satz übersetzen: “Das Glück ist halt ein Vogerl.” Arthur aber vertraut darauf, dass dieses Vogerl nie wieder wegfliegt und er selbst auch in diesem Fall ungeschoren davonkommt.

NICHT ALLEIN LUSTIG

Den Optimismus seiner Hauptfigur, der eine Art lebensfroher Hirnlosigkeit zum erfolgreichen Lebensprogramm macht, kontrastiert Fian in seinem Buch mit dem Pessimismus und der Doppelbödigkeit seiner Umgebung. Dass Arthur in Wien lebt und Fian dieses Wien wie seine Westentasche kennt, gibt dem Roman einen Atem, der mühelos über die 240 Seiten des Buches trägt.

Auch auf die Setzung von Pointen, wie man sie aus Fians Mikrodramen kennt, braucht der Autor in diesem, seinem erst zweiten Roman nicht zu verzichten. Ganz im Gegenteil scheint die ausgedehnte Prosafläche, auf der es dem Leser nicht fad wird, ein gutes Substrat für den intelligenten Witz zu sein. Neben einigen gekonnt gesetzten Tiefschlägen in die Bereiche des wirklich schlechten Geschmacks erfährt man aus Fians Buch auf diese Weise und ganz nebenbei eine ganze Menge über das Land, in dem wir leben, und beispielsweise auch, dass hierzulande in jeder Sache stets auch ihr Gegenteil steckt.

Zum Beweis nimmt Fian, dass der Karl-Marx-Hof ausgerechnet in einem Stadtteil liegt, der “Heiligenstadt” heißt und dass man, wenn man zum Wiener Funkhaus will, in einer U-Bahnstation namens “Taubstummengasse” aussteigen muss. Dass das Österreichische Fernsehen auf dem Küniglberg liegt und nicht etwa in der Wiener Blindengasse, erscheint in diesem Zusammenhang fast noch als Glück. Genau davor aber, was fast noch ein Glück ist, soll einen Gott behüten. Das wusste schon die Tante Jolesch und Antonio Fian setzt mit seinem Buch nun auch eine von deren Erkenntnissen in einer neuen und zeitgemäßen Verpackung um. Bei der Leserschaft ist ihm und seinem nicht allein lustigen Roman dabei alles Glück dieser Erde zu wünschen.

|||

DIE AUTOREN

Klaus Bonn , geb. 1958, Studium der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Anglistik und Philosophie in Mainz; war Dozent für deutschsprachige Literatur und Kulturgeschichte an der Universität Debrecen (Ungarn) und der Universität des Saarlandes; Publikationen u.a. zu Handke, G.-A. Goldschmidt, W.G. Sebald. Übersetzung der Briefe Henry David Thoreaus aus dem Englischen: Briefe an einen spirituellen Sucher (Turia + Kant 2012). Herausgeber und Übersetzer von Henry David Thoreaus Reiseerzählung Kap Cod (Residenz 2014).

Klaus Kastberger, geb. 1963 in Gmunden, Literaturwissenschaftler und -kritiker. Mitherausgeber der Gesammelten Prosa Friederike Mayröckers (5 Bände, Suhrkamp 2001), Hg. der historisch-kritischen Edition der Werke Ödön von Horváths (de Gruyter 2009ff) sowie (gem. mit Katharina Pektor) von Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater (Jung und Jung 2012). Leitung des FWF-Projekts handkeonline.onb.ac.at .

|||

¹– WESPENNEST 166 – WEITERE REZENSIONEN

  • Dieter Sperl : Peter Pessl : Der Tempel der Lu
  • Ingo Flothen : Monika Maron: Zwischenspiel
  • Manuela Schwärzler : Gaetan Soucy: Das Mädchen, das die Streichholzer zu sehr liebte

|||

HINWEIS : 16. 6. 2014 | PRÄSENTATION | DISKUSSION

In der Reihe “Literatur als Zeitschrift” wird die Ausgabe Spielformen des WiderstandesWespennest 166 in der Alten Schmiede präsentiert . Ilija Trojanow stellt den mit Walter Famler zusammengestellten Themenschwerpunkt vor und diskutiert mit Hellmut G. Haasis und Brigitte Kratzwaldüber vergangene und gegenwärtige Mittel des Protests . Konzept und Moderation : Lena Brandauer , Paul Dvorak , Daniel Terkl .

  • Präsentation und Diskussion , Wespennest 166– Literarisches Quartier Alte Schmiede , 1010 Wien – Montag , 16. 6. 2014 , 19 H ( Link )

|||

RELATED

  • wespennest 165 | Rezension | Florian Neuner über Serbastian Kiefers Monografie zu Ferdinand Schmatz
  • wespennest 164 | Rezensionen | Klaus Bonn über Zsofia Bán | Klaus Kastberger zu Reinhard Kaiser-Mühlecker
  • wespennest 163 | Rezension | Thomas Antonic über Dieter Sperl : Diary Samples
  • wespennest 162| Rezensionen | Lisa Spalt zu Mircea Cartarescu , Christian Steinbacher zu Elfriede Czurda
  • wespennest 161 | Rezensionen | Anton Thuswaldner zu Christian Steinbacher , Matthias Fallenstein zu Florian Neuner
  • wespennest 160 | Rezension | T. S. zu Roland Barthes 
  • wespennest 159 | Rezension | Gerhard Scheit zu Albert Drach
  • wespennest 158 | Friederike Mayröcker : “différence zwischen o.T. und titellos” – Stadien eines Gedichtes

|||


Viewing all articles
Browse latest Browse all 6060

Trending Articles