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Die Suche nach dem Glam : i. Vorb.

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Sie erscheint pünktlich auf das Stichwort "Paradies", allerdings hat sie heute ein buntes Tischtuch mit Blumenmustern als Oberteil an.

"Sing, Orfeus, sing." - "Bin schon dabei."

Eine Veränderung von Make-up
auf der Beerdigung von Leichenteilen
der Ernstfall des Existenzialismus
oder diese Low Seniority

"Well the Ukraine girls really knock me out. They leave the West behind."


Tief in der Nacht ein aufgetakelter Fleck. Ein scheußlicher See. Auf dem jemand ruderte. In einem dunklen Boot. Sie sah in ein Gesicht, ohne es zu erkennen. Ein schattenhafter Mann. Er sagte etwas. Sie antwortete etwas. Sie fühlte eine Abneigung, sie griff sich an die Brust. Ein beklemmendes Gefühl. Sie schaute den Mann mit diesem beklemmenden Gefühl an und erschoss ihn mit einer silberblauen Pistole. Er zeigte keine Regung, er blutete nicht einmal. Er fiel auch nicht ins Wasser. Er verschwand einfach. Löste sich in Luft auf. Sie drehte sich um und sah, dass das Boot in Richtung eines Hafens trieb. Lichter am Strand. Musik. Tanzende Menschen. Karussells. Johlende Kinder. Sie schwitzte und drehte sich zur Seite. Sie riss die Augen auf und sah nichts. Niemanden, der vor ihrem Bett hockte und sie betrachtete. Niemanden, der ihr tröstend übers Haar strich. Ihr die Bettdecke in die Hand gab, die unter dem Kinn lag. Sie dachte kurz an ihn. Sie machte die Augen wieder zu.

Allein mit der Musik, die sozialen Ängste sind weggesperrt, die Zukunft hat keine Zeit. Eine Welt ohne Schwerkraft, eine treibende Welt, eine Welt als Wasserball. Stop thinking, stand auf einer hellgrünen Pille. Die Pillen sahen noch genauso aus wie früher.

»Wissen Sie, ich erlebe alles zum zweiten Mal. Ich habe alles schon erlebt. Ich bin schon gestorben, ich bin schon tot. Ich bin aber nicht vor soundso viel Jahren gestorben, sondern in dreiundsechzig. Ich werde mein Leben also noch einmal leben.«

»Und wie heißt der Fisch?«

»Fische haben ein sehr kurzes Kurzzeitgedächtnis, weswegen sie überhaupt nur in diesen kleinen Räumen überleben können«, sagte plötzlich eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich eine Spur zu schnell um und blickte in das Gesicht der jungen Rothaarigen, die mit ihrem Freund im Café gewesen war. »Sie können keinen Wahnsinn entwickeln.«

Mir fiel auf, dass sie die Haare zusammengebunden hatte, und dann erst fiel mir auf, dass ich ihre Sprache verstand. »Und vom Meer wissen sie nichts, sie können sich nicht erinnern«, sagte sie weiter und näherte sich mit der Nase dem Glas, sodass ich ihr Profil betrachten konnte. Wenige Zentimeter, und wir hätten uns berührt.

»Da geht es ihnen wie mir«, sagte ich.
»Ich bewundere diese Fähigkeit, zu vergessen«, sagte sie und schaute mich direkt an. Sie trug immer noch dieses italienische T-Shirt. Es sah sehr gut aus an ihr.
»Es ist keine Fähigkeit«, sagte ich. »Es ist ein Genfehler oder, wenn Sie so wollen, ein genetisch bedingter Bonus. Eine Eigenschaft, die einfach nicht vorhanden ist.«
»Ist das bei Ihnen auch so?«
»Dass ich vergessen kann? Das ist berufsbedingt«, sagte ich und versuchte ebenfalls zu lächeln. Für einen kurzen Moment wurde ich unsicher. Spielte sie auf irgendetwas an? Sie konnte ein Störelement sein, die den Auftrag hatte, mich zu überwachen. Aber das Wesentliche war erledigt, es gab nichts mehr zu tun, und jetzt schimmerte eine Erinnerung durch sie hindurch.



+ Radiokolumne, die vierte
+ die Poetenladen-Seite ist auch neu

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