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Die Suche nach dem Glam : Marie Kundera

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Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Vielleicht die Stimme.

Mails schreiben, keine Mails schreiben. Nachrichten absetzen, sich von Nachrichten fernhalten. Die Schizophrenie, an einem Ort arbeiten zu müssen, an dem andere Leute Urlaub machten. Astrud Gilberto wurde jetzt von einem Instrumentalstück von Martin Denny abgelöst, es schien sich um einen gut informierten Easy-Listening-Sender zu handeln. Ich begann, mein Leben zu vermissen. Ich stand in dem weitläufigen, aber eng wirkenden Foyer, die Rezeption war nicht besetzt, also starrte ich für einen Moment in den flackernden Fernseher, der auf einem alten schweren Möbel neben der Rezeption stand, und der jetzt Bilder von Hubschraubereinsätzen zeigte. Rechts ging es in einen Aufenthaltsraum mit einer kleinen Bar, in dem ein herrenloses Piano auf einen möglichen Abendeinsatz wartete.

Im Aufenthaltsraum roch es nach Patschuli, Moschus oder Räucherkerzen, drei mir unangenehme Gerüche, die ich nicht voneinander unterscheiden konnte: Jugend in den achtziger Jahren. An den Wand hingen wieder einmal Bilder von Corot in billigen und sozusagen vergilbten Abzügen, und auf einer Art Sideboard gluckerte ein Aquarium vor sich hin. Die letzte Nachricht hatte ich vor fünf Tagen erhalten, auf meine Mails kamen seitdem keine Antworten mehr; es schien, als sei ich vergessen, im großen Welttheater untergegangen zu sein.



Der Künstlerfreund, die Staubsaugerfabrik, die gefährdeten Häuser. Ich bin schon immer Normcore gewesen, sagte ich, jedenfalls seitdem ich meine Band-T-Shirt-Phase abgeschlossen hatte, damals in den frühen Neunzigern. Vielleicht hätte ich diese Art von Popkultur noch weiter pflegen sollen, aber ich war der Distinktionskämpfe müde und wollte sie von vornherein ausschließen. Geht natürlich auch nicht.

Verzweifelter Egoismus, Egoismus und Verzweiflung.
Erster Abschlussbericht von der Deep-Throat-Konferenz.
Mitten im schlimmsten Gefecht eine Nacht auf dem Pferd verbracht.
Kriegslüstern.
Is this the way, sang es dazu aus dem Radio, you like to be loved? Frauenstimme, mit der irgendetwas nicht stimmte.

Leider auf Dauer immer flacher werdend: "Der beste Roman des Jahres" von Edward St Aubin. Trotzdem interessant - ein leichtes, luftiges Buch, das sich einerseits als Satire versteht, andererseits aber auch ernsthaft zwischenmenschliche, soziale Probleme verhandelt. (Woran es schließlich scheitert; beides zu vereinen, das schafft wohl nur Philip Roth.) Übrigens nicht auf der Man Booker Prize Shortlist erschienen, ebensowenig wie Marlene Streeruwitz' Roman "Nachkommen." auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Aber immerhin: Thomas Melle. 3000 Euro.



Vor ihm stand ein Glastisch. Der Fernseher wurde undeutlich. Martin war überzeugt, dass der Fernseher undeutlich wurde, sobald er die Brille abnahm, und es nicht seine Sehschwäche war, die die Dinge erst so verschwommen aussehen ließ. Die Welt war so, wie unter Wasser getaucht, und erst die Brille, erst dieses Instrument, das von Menschen konstruiert, entwickelt, verfeinert worden war, schaffte eine schärfere Ordnung, klare Konturen, feine Unterschiede. Die Welt aber war unscharf. Alina war verschwunden, vielleicht in die Armen eines Jugendlichen. Martin hatte die Verabredung abgenickt, beiläufig, und blieb daheim. Auf dem Sessel, schräg zum Fernseher, die Beine ausgestreckt, dann übereinander geschlagen, im Magen ein leichtes Grummeln, vor sich: Zigaretten, Aschenbecher, Fernsehzeitung, sein eigener Waschbärbauch. »Das Schaf hat Schmerzen«, sagte der Fernseher. Er zeigte jetzt einen Tierfilm.

Das Pensionszimmer war schlicht und eckig. Weiß gestrichene Tapeten; auf dem einzigen Bild posierte eine junge Frau mit schlohweißem, langen Haar, einer Halskette, einer weißen Trainingsjacke über einem hellblauen T-Shirt. Ein junges Model. Auf dem langen Sideboard saß ein winziger Fernseher. Ein Wandschrank neben der Badezimmertür, im Bad gab es eine Wanne, keine Stehdusche. Die Seifen lagen ausgepackt neben ihren Hüllen. Die Liebste setzte sich aufs Bett, das mit weißer Bettwäsche ausgeschlagen war. Im Fenster sah man die Fassade des gegenüberliegenden Hauses und den Kopf einer Straßenlaterne. Es roch typisch, ein typischer Fremdenzimmergeruch, unpersönlich und steril. Sie rückte das rechte Bein langsam an das linke heran. Ein Telefon stand unbenutzt auf dem rechten Nachtschrank. Das Handy lag wie eine stille Tochter daneben. Das Bett reichte für zwei, für zwei Verliebte, für zwei Vermählte, es war ein französisches Bett. Die Liebste kratzte sich am Oberarm, schluckte, änderte die Blickrichtung, ohne etwas Neues zu sehen.



+ Radiokolumne #5

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