[Arbeitswohnung, 7.46 Uhr.
Jean Pacalet, pêches capitaux, (7x7)]
Jean Pacalet, pêches capitaux, (7x7)]
Die meisten Menschen, habe ich beobachtet, streben Konsolidierung an, um ihr Vertrautes zu erhalten: für funktionierende Gesellschaften ist dies wahrscheinlich, nein, soga sicher nötig, für funktionierende, das heißt eben auch verläßliche Familien, und die Sehnsüchte werden verschoben oder sublimiert. Sie stehen, die Menschen, nicht gerne auf Vulkanen. Aber es zieht sie zu ihnen hin. Ich, liebe Freundin, bin immer, wie Sie wissen, hinauf; wann immer es ging. Sie werden sich mit mir des Ätnas entsinnen, für dessen einen Ausbruch ich einen Auftrag von Merian Auftrag sein ließ und einfach die Route wechselte, fort aus den Nebrodi, wo ich einen Trail gehen und darüber schreiben sollte; wie ich mir, kaum hatte ich in La Sicilia von dem Ausbruch gelesen, einen Wagen mietete und hinfuhr. So weit man durfte, den Rest zu Fuß und an den Gbirgsjägern vorbei unter der bewachten Absperrung durch; es war enorm neblig, deshalb ging das. Dunstig war es und kalt, so in dreitausend Metern Höhe; fünfhundert Meter relativ steilen Aufstiegs lagen noch vor mir. Ich hatte Angst zum Bibbern, aber schob das auf die Kälte, die das Steigen in mir schwitzen ließ. Weit über mir hatte noch jemand, einige Zeit vor mir, die Sperre durchschlüpft; ich sah nur seine klitzekleine Silhouette, manchmal, wenn der Dunst vom Wind beiseitegepustet wurde für Momente. Obwohl er, dieser Wind, in scharfen Böen pfiff, hörte ich den Vulkan fauchen; Vulkane fauchen wie warnende Schlangen. Dazu das tiefe Grummeln und bisweilen eine Explosion.
Der Mann, ein hochgewachsener sturer Berggreis, hatte seine Enkelin oder Urenkelin oder Urnichte bei sich. Auf dem fast obersten Plateau hatte sie sich hingesetzt und weinte, während er schimpfte und schimpfte und weiterwollte. Ich habe da zum ersten Mal gesehen, daß Tränen zu Eis werden können, schmalen Streifen auf ihrem Gesicht. Der Alte wollte an den Kraterrand, den Rand des größten der Krater, den der Volksmund voragineSchlund nennt, auch la golosa, die Gefräßige. Es ist ein ungefährer Krater, teils nur Bruch. Wir sahen ihn erst nicht, da stapfte der Alte schon beinah hinein. Eine der rissigen Wolken wehte auf, so sah man's. Ich konnte den Alten grad noch am Kragen packen. Er schimpfte, sperrte sich, die junge Frau weinte und weinte. Ich riß beide an den Hang, und auf unsern Hosenböden rutschten wir an der Südflanke des Berges hinab, einhundert, zweihundert Meter, bis uns so etwas wie ein Pfad stoppte. Um die Flanke herum zur Absperrung zurück. Die Gebirgsjäger schüttelten nur die Köpfe, schimpften aber nicht, sondern, Süditaliener, packten uns in Decken und gaben uns heißen Tee aus ihren Thermoskannen.
Seit damals habe ich das Gefühl, der Berg hat noch eine Rechnung mit mir offen. Die Beobachtungsstation wurde in derselben Nacht geräumt, und in derselben Nacht ging sie im Lavastrom unter. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welchen Triumph ich damals empfand, nachher, unten in Catania wieder, als ich hochsah. Nachts kann man die Laveströme glühen sehen von der Stadt aus. Ich würde immer wieder hinauf. Merian, übrigens, war später ziemlich dankbar für meine Fotos. Es wurde einer meiner bestbezahlten Artikel überhaupt.
Intensitäten.
Es ist nicht so, daß ich mich bewußt entschiede. Es treibt mich. Ich werde benommen, überwältigt. Und suche das und suche das auf. Es ist dies ein wesentlicher Charakterzug meiner Literatur; ohne das wüßte ich gar nicht, wie - vor allem: - was schreiben. Mit zunehmendem Alter hat sich daran gar nicht geändert. Dennoch bin ich treu noch in der Untreue, mit derselben Intensität; das bringt eine seltsame Balance aus Verläßlichkeit und Unverläßlichkeit zustande, viel Schmerz aber, den ich anderen wie mir selbst beifüge damit. Ich will auf keinen Fall an Intensitäten vorbeigehen, sondern ausgesetzt werden und sein. Die einzigen, die ich schone, sind die Kinder; für sie bin ich nur verläßlich. Denn sie haben nicht wählen können. Jeder andere, jede andere, der, die sich auf mich einläßt, kann das aber: entscheiden. Für die Kinder verzichte ich auch auf Intensitäten, wenn es sein muß. Aber ich bringe sie ihnen bei. Mein Sohn stand zum ersten Mal mit vier auf einem Vulkan. Einige meiner Leser:innen werden sich an den Pronto Soccorso von Milazzo erinnern. Heute hat der junge Mann eine Narbe, die ihn für Frauen noch unwiderstehlicher machen wird als seine Zahnlücke. Das kommt vom Leben. Aber es hat seinen Preis. Mit einem wirklichen Gedicht, schrieb ich an anderer Stelle, können wir eine Frau gewinnen, nicht aber halten. So ist es mit dem Lebendigsein. Es kann, dieses Lebendigsein, auch der Grund dafür sein, daß wir verlassen werden.
Deshalb sind die meisten Menschen nicht lebendig, sondern nur am Leben. Lebendig zu sein, holen sie sich ersatzhaft aus den, wenn es gutgeht, Künsten, ansonsten aus dem Entertainment. Ebenso viele meiner Kollegen; sie leben mehr in ihren Schriften als im Leben. Alles ist ein kleiner Käfig. Ich habe es immer gehaßt, den Schriftsteller als Beobachter zu sehen, der sich nicht mitten hineinbegibt. Es ist ungerecht, ich weiß, aber ich habe auch Schriftsteller nie wirklich ernstnehmen können, die keine Kinder haben. Das ist weniger eine Entscheidung als ein Instinkt. Insgesamt haben willentliche Entscheidung einen ziemlich geringen Raum in meiner Lebensführung gehabt; ich müßte anders ja über dem Leben stehen, also irgendwie mehr als es sein. Das ist bestimmt nicht der Fall. Als Politiker wäre ich eine Katastrophe.
Sie denken, Freundin, ich sei melancholisch? Nein, das hört gerade auf. Es gibt Erleben, die einen sich sehen lassen, und dann versteht man, wer man ist. Und nimmt das Risiko abermals a n. Nicht aus Instinkt, sondern bewußt: dann w i r d Wille.
Der Mann, ein hochgewachsener sturer Berggreis, hatte seine Enkelin oder Urenkelin oder Urnichte bei sich. Auf dem fast obersten Plateau hatte sie sich hingesetzt und weinte, während er schimpfte und schimpfte und weiterwollte. Ich habe da zum ersten Mal gesehen, daß Tränen zu Eis werden können, schmalen Streifen auf ihrem Gesicht. Der Alte wollte an den Kraterrand, den Rand des größten der Krater, den der Volksmund voragineSchlund nennt, auch la golosa, die Gefräßige. Es ist ein ungefährer Krater, teils nur Bruch. Wir sahen ihn erst nicht, da stapfte der Alte schon beinah hinein. Eine der rissigen Wolken wehte auf, so sah man's. Ich konnte den Alten grad noch am Kragen packen. Er schimpfte, sperrte sich, die junge Frau weinte und weinte. Ich riß beide an den Hang, und auf unsern Hosenböden rutschten wir an der Südflanke des Berges hinab, einhundert, zweihundert Meter, bis uns so etwas wie ein Pfad stoppte. Um die Flanke herum zur Absperrung zurück. Die Gebirgsjäger schüttelten nur die Köpfe, schimpften aber nicht, sondern, Süditaliener, packten uns in Decken und gaben uns heißen Tee aus ihren Thermoskannen.
Seit damals habe ich das Gefühl, der Berg hat noch eine Rechnung mit mir offen. Die Beobachtungsstation wurde in derselben Nacht geräumt, und in derselben Nacht ging sie im Lavastrom unter. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welchen Triumph ich damals empfand, nachher, unten in Catania wieder, als ich hochsah. Nachts kann man die Laveströme glühen sehen von der Stadt aus. Ich würde immer wieder hinauf. Merian, übrigens, war später ziemlich dankbar für meine Fotos. Es wurde einer meiner bestbezahlten Artikel überhaupt.
Intensitäten.
Es ist nicht so, daß ich mich bewußt entschiede. Es treibt mich. Ich werde benommen, überwältigt. Und suche das und suche das auf. Es ist dies ein wesentlicher Charakterzug meiner Literatur; ohne das wüßte ich gar nicht, wie - vor allem: - was schreiben. Mit zunehmendem Alter hat sich daran gar nicht geändert. Dennoch bin ich treu noch in der Untreue, mit derselben Intensität; das bringt eine seltsame Balance aus Verläßlichkeit und Unverläßlichkeit zustande, viel Schmerz aber, den ich anderen wie mir selbst beifüge damit. Ich will auf keinen Fall an Intensitäten vorbeigehen, sondern ausgesetzt werden und sein. Die einzigen, die ich schone, sind die Kinder; für sie bin ich nur verläßlich. Denn sie haben nicht wählen können. Jeder andere, jede andere, der, die sich auf mich einläßt, kann das aber: entscheiden. Für die Kinder verzichte ich auch auf Intensitäten, wenn es sein muß. Aber ich bringe sie ihnen bei. Mein Sohn stand zum ersten Mal mit vier auf einem Vulkan. Einige meiner Leser:innen werden sich an den Pronto Soccorso von Milazzo erinnern. Heute hat der junge Mann eine Narbe, die ihn für Frauen noch unwiderstehlicher machen wird als seine Zahnlücke. Das kommt vom Leben. Aber es hat seinen Preis. Mit einem wirklichen Gedicht, schrieb ich an anderer Stelle, können wir eine Frau gewinnen, nicht aber halten. So ist es mit dem Lebendigsein. Es kann, dieses Lebendigsein, auch der Grund dafür sein, daß wir verlassen werden.
Deshalb sind die meisten Menschen nicht lebendig, sondern nur am Leben. Lebendig zu sein, holen sie sich ersatzhaft aus den, wenn es gutgeht, Künsten, ansonsten aus dem Entertainment. Ebenso viele meiner Kollegen; sie leben mehr in ihren Schriften als im Leben. Alles ist ein kleiner Käfig. Ich habe es immer gehaßt, den Schriftsteller als Beobachter zu sehen, der sich nicht mitten hineinbegibt. Es ist ungerecht, ich weiß, aber ich habe auch Schriftsteller nie wirklich ernstnehmen können, die keine Kinder haben. Das ist weniger eine Entscheidung als ein Instinkt. Insgesamt haben willentliche Entscheidung einen ziemlich geringen Raum in meiner Lebensführung gehabt; ich müßte anders ja über dem Leben stehen, also irgendwie mehr als es sein. Das ist bestimmt nicht der Fall. Als Politiker wäre ich eine Katastrophe.
Sie denken, Freundin, ich sei melancholisch? Nein, das hört gerade auf. Es gibt Erleben, die einen sich sehen lassen, und dann versteht man, wer man ist. Und nimmt das Risiko abermals a n. Nicht aus Instinkt, sondern bewußt: dann w i r d Wille.
[Skrjabin, Erste Klaviersonate, f-moll.]
(An sich hätte ich sein >>>> Poème de lExtase auflegen sollen, aber noch entsprechen mir mehr die Sonaten. Ich muß Korrekturen in das Traumschiff übertragen, indes schon seit acht meine Putzfrau hier herumwirbelt, ein bißchen, aus Reinigungssicht, erschrocken ob der so vollgestellten Zauberkammer; auch das die Schaufensterpuppe auf meinem Ofen, die eine Brust frei, einen Halsreif de O trägt, hat sie momentlang irritiert. Ich gebe zu, daß mir das eine heimliche Freude machte. Selbstverständlich kommentierte ich den Blick nicht.)