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Die Dschungel. Anderswelt. (Alban Nikolai Herbst / Alexander v. Ribbentrop) : Sex schafft Sex. PP257, 26. Oktober 2014: Sonntag. Verzicht schafft immer nur Verzicht.

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[Arbeitswohnung, 12.01 Uhr alt/11.01 Uhr neu.]
Heute werde ich mich wiederholen, werde Themen wiederholen, zu denen ich vorhin in einem Brief schon schrieb. Ich könnte es mir einfach machen, copy & paste, dann etwas umformulieren. Aber das will ich nicht, will, daß der Brief ein persönlicher bleibt, nur geschrieben für sie, will aber doch auch zu Ihnen sprechen, weil sich eben im Privatesten das Alleröffentlichste begibt, so, wie im Traumschiff Lanmeister über die Liebe spricht:Wenn ich zu Petra “Ich liebe dich” gesagt habe, habe ich das wirklich gemeint. Ich habe das gefühlt. Wenn sie dann antwortet “ich liebe dich auch”, weiß man über­haupt nicht mehr, was man empfindet. Wenn das zum ersten Mal geschieht. Man fühlt dann nur und hat überhaupt keine Grenze. Womit ich Begrenzungen meine. Man hat dann nicht einmal mehr einen Körper, weil man auch gar keinen Willen hat. Imgrunde, obwohl man doch gemeint ist, hat man sogar kein Ich mehr. Dabei kann man ohne ein Ich nicht gemeint sein.
Wirklich ist etwas anderes gemeint. Etwas, von dem wir ein so kleines Teil sind, daß wir uns und das All völlig vergessen. Von dem wir nur ein Teilchen sind, das sich soeben mit einem zweiten verbindet. Aber im Moment des Kusses ist man plötzlich das ganze All selbst.
So daß ich wegen der beiden auf dem Seitenflügel über den gesamten Mittagsschlaf gedacht habe, wie falsch es ist zu behaupten, wo eines sei, könne kein zweites sein. Denn dieser erste Kuß hat sich nicht nur diese zwei ausgesucht. Sondern Hunderte, Tausende andere empfangen ihn in demselben Moment. Und Hunderte, Tausende andere werden jede und jeder zu diesem einzigen Weltall. So daß man nur ausgesucht ist, nicht auserwählt.
Zwar bleiben wir in unserer Ausgesuchtheit völlig gewöhnlich. Doch eben diese Ge­wöhnlichkeit ist das Einzigartige. Ist ein immer und immer wieder aufeinander Folgen­des. Das zugleich, weil es eben zugleich geschieht, einzigartig ist. Und trotzdem ist es spezi­ell. Denn es sind immer zwei bestimmte Menschen, die sich zum ersten Mal küs­sen. Sie sind in Gleichheit unvergleichlich. Es gibt nur sie. Weil aber in derselben Sekunde unendlich viele bestimmte Menschen nur sie sind, ist es allgemein. Es ist die Allgemeinheit an sich.
Lastotschka, darin besteht das Wunder. Es ist dieses Wunder.
So daß mich die persönliche, nun ja, „Problematik“ in unser Allerallgemeinstes und damit zu dem zurückbringt, was nun zu vollenden ist: der Roman.
Sex schafft Sex, Verzicht nur Verzicht. Es ist eine alte Beobachtung, daß Menschen, die ihre Libidio nicht mehr leben, sie bald nicht mehr haben, und sie spüren das nicht. Es fehlt ihnen gar nichts, scheint nichts zu fehlen. Indem sie sich deshalb nicht ungeliebt fühlen, sind sie es auch nicht. Aber der Körper, er stillt sich, und „if you don't use it, you lose it“. Das ist gemein, denn es hat Folgen, zu denen auch die Krankheit gehört: Nicht gebrauchte Organe, da sie vernetzt sind, führen den wenigstens teilweisen Ausfall auch anderer, gebrauchter Organe herbei. Diesen Prozessen entkommt man nicht mehr. Schließlich setzt man sich still, wenn es einigermaßen gutgeht: in der Sublimierung. Man kann Energien, das ist wahr, umleiten: auf diese Weise schöpferisch sein, verschoben schöpferisch. Aber es bleibt immer ein Wurm an der Wurzel. Und schließlich beklagt man das Leben, was in unseren westlichen Zusammenhängen, den luxuriösen, reichlich unangemessen ist, und peinlich. So geht das auch durch die Künste: das Leben als ein Jammertal. Tut sich gut mit der Verneinung der Lüste zusammen und spielt so der Macht in die Arme. Egal, ob man's will. Spielt der Funktionalisierung in die Arme, dem sozusagen Faktischen, das faktisch gar nicht ist, sondern bloß und rein auf Zweck orientiert: den der Warengesellschaft und ihre pur ökonomische Wertschöpfung, die um sich her alles zerstört. Zubereitet auf Fruchtlosigkeit; im Wortsinn fest/stellt. Entropie durch Bewegungslosigkeit. Replikante Mechanik. Verzicht heißt: Werde ein Ding.

Es ist Winterzeit: Wir werden erfrieren, wenn unsere Körper verzichten.
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[12.55 Uhr neu.
Peter Maxwell Davies, Salomé (1978).]

Um das zu ergänzen und gleichzeitig >>>> auf Schlinkert zu antworten: Wir strahlen ein erfülltes, volles Sexualleben a u s, jenseits fester Paarbeziehungen und ihrer – immer sozialen, immer geprägten– Regeln; wer es hat, ist begehrt und muß im „Bedarfs“fall nie lange suchen. Es ist dies so ungerecht, eine soziale Kategorie, wie mit dem Glück. Unglückliche Menschen, etwa aus Liebeskummer, finden lange keinen nächsten. Um es sogar hart zu sagen: Sie stoßen andere Nähen ab und werden gemieden. Obwohl gerade sie so das Gegenteil brauchten, indessen der Reiche immer reich bleibt. Ihm schöpfen sich die pheromonalen Reize, das merkt er gar nicht, merkt sie nicht, ständig neu nach. Anziehungen zwischen den Menschen sind nicht bewußt, sondern geschehen; es ist immer „nur“ eine Frage, wie wir dann damit umgehen, ob wir uns zurückziehen (meist aus sozialem Grund, um Älteres, etwa, zu schützen) oder ob wir es wagen. Imgrunde ist dies das ganze Geheimnis der erotischen Verführerinnen und Verführer; sie müssen das gar nicht bewußt tun. Wir riechen ihnen es an, so, wie ein bereiter Mann, also wenn er für Kinder bereit ist, bereiten Frauen das anriecht. Kommt da noch Liebe hinzu, ist er imgrunde verloren. Kopf hin, Kopf her. Der Verführer wird zum Verführten, etwas, das von einer ungeheueren Schönheit ist. Und von einer großen sinnlichen Gerechtigkeit.
Ich weiß, wie man mir wieder sagen wird, ich argumentierte zu biologisch. Und ich werde immer antworten: Wir achten die Biologie zu gering, mißachten sie, der wir alles, was wir sind, verdanken, vor allem, daß wir sind. Deshalb bin ich ein, sagen wir, katholischer Pantheist und bin's aus tiefstem Geschlechtsherz. (Daß ich in Maria stets Demeter sehe, muß ich nicht eigens schreiben).

„Ob man sich zurückzieht“: Ich bin für meine nun knapp sechzig Jahre ein, jedenfalls vergleichsweise, außergewöhnlich gesunder Mann, habe außer meiner vom Kraftsport angerissenen Achillessehne keinerlei körperlichen Einschränkungen oder Gebrechen. Das kommt vom Nichtverzicht. Wenn soziale Rücksichtnahme bedeutet, daß man krank wird, bin ich lieber asozial. Das meint auch den Umgang mit meinen Liebsten, Nahsten, Vertrautesten. Was ich dagegenstelle, ist der weitgehende Verzicht auf Heimlichkeiten, was wiederum andere Risiken bedeutet, vor denen Menschen sich fürchten; etwa, verlassen zu werden. Davor fürchte auch ich mich, sogar sehr. Dennoch. Ich lasse mein Gerades nicht beugen. Um bei meiner jetzigen Musik zu bleiben: daß Jochanaan Salomé abwies, hat ihn völlig zu Recht den Kopf gekostet. Dieser monotheistische Kastrat! (Monotheismus ist immer kastratisch). Wagner, im Parsifal, ausnahmsweise, zeigt etwas Wahres: Klingsor bezieht seine Macht aus der Kastriertheit. Daß, um sie ihm zu nehmen, dann wieder auf den Verzicht abgestellt wird, bringt aber in die Oper die Lüge zurück. Jedesmal, wenn Kundry sagt „dienen, dienen“, könnte ich aufs neue kotzen – nicht, weil sie's sagt, um sich perverse Lust zu gewinnen, sondern weil sie jede Lust damit durchstreicht. (Interessant übrigens, und verräterisch, daß Lohengrin als seinen Vater Parsifal nennt; da muß der ja wohl gevögelt haben. Alle Handlung bei Wagner, außer im Tristan, wird schließlich Lüge, sogar die Wahrheit: wenn sie ihm denn geschah. Sie geschah ihm offenbar wider Willen. Aber das nur am Rande.)
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