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Salon Littéraire | Florian Neuner :
Moor ( oder Moos )
Mit Fotografien von Jörg Gruneberg
[ Verlag Peter Engstler 2013 ]
Ja, die Sprache ist nur eine Insel im Meer der Klänge
Gerd Zacher
Moor (oder Moos) eröffnet eine Reihe von Texten, die sich mit Inseln im geographischen, aber auch im metaphorischen Sinne auseinandersetzen und die gemeinsam ein Archipel bilden. Neben Helgoland, der einzigen deutschen Hochseeinsel, spielen auch Inseln eine Rolle, die auf den ersten Blick gar nicht unbedingt als solche erkennbar sind. Erst Landkarten enthüllen beispielsweise die Existenz der Emscherinsel im nördlichen Ruhrgebiet. Ein Kapitel führt auch an die fiktive böhmische Küste. In Moor (oder Moos) ist mein Ausgangspunkt die Insel mitten in Berlin, auf der ich lebe und die auch mein Schreibort ist. Davon ausgehend entspinnen sich poetologische Reflexionen & ein Diskurs zum ewigen Thema Literatur & Alkohol. Einen intertextuellen Bezugsrahmen bildet zudem Die Insel von Peter O. Chotjewitz – das schönste Berlin-Buch nach Alfred Döblin, geschrieben in Zeiten, in denen ganz West-Berlin noch eine Insel war.
Mit dem Photographen Jörg Gruneberg habe ich eine Küstenwanderung unternommen & die Insel umrundet. Entstanden ist eine umfangreiche Serie, aus der eine Auswahl Eingang in das bei Peter Engstler erschienene Buch gefunden hat. Für diese Veröffentlichung hat Gruneberg fünf weitere Photos ausgewählt.
Ich höre jetzt auf zu schreiben. Nicht alles muß protokolliert, gar: kommentiert werden. Monate vergehen, gehen ins Land, wie man sagt. Das soll erst mal unkommentiert bleiben. Herbststürme fegen über die Insel. Die Nächte werden wieder länger. Oder kürzer. Dergleichen ist vorhersehbar. Auch, daß ab & an Gewitter über der Insel niedergehen. Seewetter. & manchmal schneit es. Das ist die Partitur der vier Jahreszeiten. Langsam wird es wieder ungemütlich auf dem Eiland. Umso gemütlicher ist es in den Inselschenken! Weniger vorhersehbar sind freilich die Öffnungszeiten der Gaststätte zur Post, die neulich sogar noch nach 20 Uhr geöffnet war. Ich überlegte hinüberzugehen, konnte mich aber nicht rechtzeitig dazu entschließen. Zweifellos wäre das eine der ganz wenigen Gelegenheiten gewesen, einen Abend in dieser Kneipe zu verbringen! Nun, ich kann meine Abende auch woanders verbringen. Ich kann meine Abende schreibend verbringen oder lesend. Ich kann meine Abende auch verbringen, ohne zu lesen oder zu schreiben. Manchmal kann ich hinterher gar nicht sagen, ob ich überhaupt etwas gemacht habe an einem dieser langen Winterabende auf der Insel bzw.: was. Ich höre jetzt auf zu schreiben. Ist das ein Einstieg? Handelt es sich bei der Siedlung im Nordosten der Insel um ein domestiziertes ehemaliges Verbrecherviertel? Hat es hier früher Strandräuber gegeben? Jedenfalls haben schon viele in den Gewässern vor der Insel Schiffbruch erlitten. Handelt es sich noch immer um Pubertätsalkoholismus? Um einen Schlag der gesellschaftlichen Wirklichkeit? In der Quelle– es ist schon weit nach Mitternacht – wird die Frage gestellt: Was ist Wahrheit? Ein Stammgast stellt diese möglicherweise entscheidende Frage an der Theke. & er stellt sie laut & deutlich – so laut & deutlich, daß auch ich sie, der ich gar nicht in unmittelbarer Nähe dieses Stammgastes, nicht einmal an der Theke sitze, im von vielen Stimmen erfüllten Gastraum dennoch hören kann. Was ist Wahrheit? &: Kennst du Karl Popper? Aus dieser Richtung also weht der Wind, weht Gesprächsfetzen an mein Ohr. Welchen Verlauf mag dieses Thekengespräch vorher wohl genommen haben, um weit nach Mitternacht zu dieser Frage vorzustoßen? Karl Popper, das ist doch dieser Philosoph oder Wissenschaftstheoretiker, der immer gegen Hegel & Marx wetterte zu Zeiten des Kalten Krieges? Ein Anti-Kommunist, der von der “offenen Gesellschaft” schwadronierte & zu allem Überfluß auch noch eine Drei-Welten-Theorie vertrat. Schnell versinkt alles wieder in Schlagermüll. Ich kann nicht hören, ob & wie die möglicherweise entscheidende Frage an der Theke beantwortet wird. Wir müssen Formen finden, in die wir mühelos alles, was es auf der Welt gibt, hineintun können. Lese ich bei Chotjewitz. Die Rede ist von einem Buch, in das sich alles einfügt & das man durch Auswechslung seiner Einzelteile stets auf dem neuesten Stand halten kann. Wie ein großes, etwas chaotisches, kugelförmiges Kneipengespräch stelle ich mir das vor – ein niemals abreißender Redefluß. Immer wieder verlassen Gäste die Kneipe bzw. das Gespräch oder kommen hinzu, klinken sich ein oder aus. Finden ein Ende oder keins. Der Gesprächsstrom bewegt sich irgendwie mäandernd weiter. Wohin, kann niemand wissen, wielange noch, & die Quelle hat ja auch rund um die Uhr geöffnet.
Ich höre, daß eine Kneipe im äußersten Westen, auf der sogenannten Hutteninsel, jüngst umbenannt worden sein soll. In der Regel haben Umbenennungen nichts Gutes zu bedeuten. Ich glaube aber andererseits auch nicht, daß man durch Umbenennungen sehr viel erreichen kann. Wer an den Fakten nichts ändern will oder kann, der überlegt sich neue Etiketten oder Sprachregelungen. Das ist ja bekannt. & was – um Himmels willen! – ist nur mit dem Bierbrunnen passiert, wo seit neuestem Cocktails im Angebot sind, ohne daß die Stammgast-Alkoholiker, die dort ihr billiges Bier zu trinken pflegen, wegbleiben würden? Noch immer dröhnt das Privatradio durch die geschmacklos umgestaltete Kneipe. Wie in einer Cocktailbar klingt es nicht im ehemaligen Bierbrunnen. Ich höre auch – in den Radionachrichten, die durch den ehemaligen Bierbrunnen dröhnen? – vom Tod des Stadtbären, der in einem Zwinger in der Nähe der Fischerinsel vor der Ostküste der Insel gelebt hat. Vielleicht sollten wir Bier & Schnaps bestellen & eine Expedition zum Bärenzwinger vorbereiten, in dem jetzt nur noch eine einzige Bärin lebt? Solange sie dort noch lebt – Tierschützer wollen das alte Tier zu einem Umzug nötigen. Der Bärenzwinger sei zu klein usf. Glauben die denn wirklich, daß das Bärenauge auf seine Bären so leichtfertig verzichten kann? & außerdem hat die alte Bärin in ihrem Zwinger immerhin eine Fußbodenheizung. Solche Dinge können einem schon durch den Kopf gehen bei einem weiteren Bier. Währenddessen lese ich, daß eine Zentralstelle für subversive öffentliche Initiativen gegründet worden sein soll. Wie praktisch! Je länger man in diesem Buch liest, zumindest hoffe ich das, desto besser ist es. Trotzdem ist damit nicht viel geholfen, denn es ist noch nicht fertig. Ob es jemals fertig sein wird? Der Verleger sagt, daß der Umfang 48 Seiten nicht überschreiten darf. Sonst kann es nicht mit Klammern geheftet werden. Nun gut. Im Café Klatsch– bei dem es sich anders, als der Name vermuten läßt, um gar kein Café handelt, sondern um eine weitere Bierkneipe – werde ich Zeuge eines Gesprächs über die Zähne eines Stammgastes. Eine Freundin oder Bekannte sagt diesem Stammgast ihre Meinung über seine schlecht gepflegten Zähne. Der Stammgast reagiert bockig. Die Freundin oder Bekannte meint: Ich muß dich ja nicht küssen! & verleiht ihrer Verwunderung Ausdruck, daß die Lebensgefährtin des Stammgastes dessen unzureichende Zahnpflege aushält. Der aber geht in die Offensive & beteuert, daß ihm nicht nur seine Zähne, nein, daß ihm seine Gesundheit überhaupt vollkommen gleichgültig sei. Bestellt noch ein Bier. Im Café Klatsch wird derzeit eine Biersorte ausgeschenkt, die ich auch an der böhmischen Küste schon getrunken habe. Das Bier wird in Velké Popovice gebraut, auf den Bierdeckeln & den Gläsern stemmt der Großpopowitzer Ziegenbock einen mächtig schäumenden Bierkrug. Ich habe im Café Klatsch vor kurzem auch erlebt, wie einer Frau eine Lektion in Sachen Arbeitsmarktpolitik erteilt wurde. Die Frau war der naiven Ansicht, daß jeder auch noch so schlecht bezahlte Arbeitsplatz besser sei als keiner, & die vereinte Medienpropaganda arbeitet ja auch daran, daß eine Bevölkerungsmehrheit diesen Unsinn glaubt. Die Grenzen zwischen dem, was gerade gewesen ist, was vor langer Zeit gewesen ist, was nie gewesen ist, vermischen sich. Aber das macht doch nichts, es handelt sich doch um einen fiktionalen Text! Auch wenn man die Kneipen, die in diesem Text Erwähnung finden – das kann ich den Lesern garantieren – in der sogenannten Wirklichkeit aufsuchen kann. Wenn sie nicht schon geschlossen oder weitere Umbenennungen erlitten haben. Wir denken fünf Minuten über unsere Lage nach & kommen zu keinem Ergebnis. Also lassen wir das.
Aus dem Lokal mit dem grauenhaften Namen Walhalla– der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, daß nur der Name dieser Gaststätte im sogenannten westfälischen Viertel grauenhaft ist, die Gaststätte als solche keineswegs -, wo man kollektiv & auf mehreren Leinwänden bzw. Bildschirmen einem Fußballspiel folgt, haben wir uns in Meißner’s Probierstube geflüchtet, wo auch an Fußball nicht interessierte Gäste Zuflucht finden. Natürlich wird bei jedem Tor gegrölt, aber so viele Tore fallen dann auch wieder nicht. Wir sitzen etwas im Abseits & sehen uns die Bilder an, die J. auf unserer mehrtägigen Küstenwanderung gemacht hat. Wir hatten versucht, die Insel zu umrunden, & es ist uns schließlich auch gelungen. Eine vollständige Insel-Umrundung nimmt mehrere Tage in Anspruch, & das Begehen des Klippenrandwegs kann durchaus beschwerlich werden bei ungünstigen Witterungsbedingungen, bei Wind & Wetter mitunter sogar gefährlich. Regengüsse begleiteten uns vor allem an der Südküste. Im Nordwesten wurde die Orientierung bei einbrechender Dunkelheit irgendwann mühsam. Wir haben trotzdem den im Norden der Insel gelegenen Hafen gefunden. Ich bleibe beim Durchsehen der Photos von unserer Küstenwanderung immer wieder an den Bildern hängen, auf denen es etwas zu lesen gibt: Schriftzüge, Graffiti, Straßenschilder & dgl. Ich bin vielleicht zu sehr auf Schrift fixiert. Ich versuche, im Text der Stadt zu lesen, die Stadt als Text usf. Ich lese: Die Stadt gehört dem Volk! Das hat jemand auf eine Mauer an der Südküste gesprayt. Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte. Lese ich auf einem Plakat, auf dem eine Lokomotive mit einem roten Stern zu sehen ist. Auf anderen Plakaten, denen man derzeit auf der Insel kaum ausweichen kann, sind Marx, Lenin & Che Guevara abgebildet. Ob das etwas zu bedeuten hat? Ich lese auch: Unser Gott ist Karl Marx & sein Prophet ist Mao Zedong. Das ist ein Zitat aus den sechziger Jahren. Einige Texte sollten ganz unverändert in das Buch übernommen werden, einige Texte sollten etwas manipuliert, andere wiederum gegeneinander verschnitten werden. Ich habe mir eine halbe Seite ausgedruckt & mit in die Kneipe genommen. Ich glaube, in den Bierbrunnen– zu Zeiten als der sich noch nicht als Möchtegern-Cocktailbar gerierte. Ich kritzle auf das Blatt & trinke Bier dazu. Ich will C. antworten, der mir einige Fragen vorgelegt hat – was für mich gegenwärtig sei an der aktuellen Literatur oder literarischen Debatte & wo im Strom ich mich & meine Texte verorte. Ich muß an die nahe Stromstraße denken, aber das bringt mich nicht weiter. Ich kritzle etwas davon, daß die Hauptströmung auch der sogenannten Gegenwartsliteratur in erster Linie Dreck mit sich führt & daß man mit dem Cliché vom Gegen-den-Strom-Schwimmen meiner Meinung nach auch nicht weiterkommt. Ich kritzle: Gegenwärtig ist die heute entstehende Literatur erst mal von allein. Aber das gehört womöglich nicht hierher. Andererseits: Wie wäre zu entscheiden, was hierher gehört & was nicht? Nach welchen Kriterien? & es stimmt schon: Viele gleichzeitige Ereignisse führen zu einer Beschleunigung des Flusses. Viele bedeutungslose Ereignisse erzeugen den Eindruck, viel Zeit zu haben. Im Café Cox (Kunst – Kaffee – Kneipe) nehme ich mir diesen Text dann noch einmal vor. Ich sitze an der Theke, den ausgedruckten Text & ein Bier vor mir. Ich glaube allerdings nicht, &: ach Scheiße! So kann es nicht weitergehen. Wirklich nicht. Wahrscheinlich muß ich noch einmal von vorne anfangen. Ich lese langsam. Ich kann die Gespräche, die an der Theke geführt werden, nur mühsam ausblenden. Ich glaube, der Mann, den ich vor ein oder zwei Monaten über Arbeitsmarktpoltik dozieren hörte, ist an dem Gespräch beteiligt. Ich glaube, das war in der Nacht, als Wer etwas anderes als die lokalen Drecksblätter liest in einer Kneipe, gar etwas zu Papier zu bringen versucht, macht sich natürlich verdächtig. & der Wirt stellt auch prompt die Frage: Was hast du da für ein Pamphlet? Ob es sich auch um keine kommunistischen Aufrufe handle? Ich versuche abzuwiegeln: nicht so direkt! & wundere mich, daß der Wirt an die Textsorte Pamphlet gedacht hat. Ich höre jetzt auf.
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Florian Neuner( Bio – Bibliographie )
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