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rheinsein : Kombinierter Sonnenauf- und -untergang in Leverkusen

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Die Forschungsreise ist mein Lieblingsbuch von Urs Widmer. Als gestern früh die traurige Nachricht seines Hinscheidens anlangte, verspürte ich unmittelbaren Drang, aufbrechen zu müssen, rüstete mich eilig mit den notwendigsten, in Griffnähe befindlichen Instrumenten, seilte mich vom Balkon ab, kämpfte mich durch den Hinterhof, hinaus auf die Straße, wo ich, um möglichst nicht gesehen zu werden, hinter parkenden Autos in Deckung ging, die wie Perlen an einer Schnur aufgereiht ein geschütztes Fortkommen bis an den Rhein ermöglichten. Geflügelte Brücken führten über den Strom in den fernen Osten. Am hohen Mittag gelangte ich nach Leverkusen und stieß auf diesen kombinierten, endlosen Sonnenauf- und -untergang, der mir als günstiges Zeichen des Himmels an den großartigen Schweizer Autor erschien.
Heute, zurück aus Leverkusen, greife ich aus dem Bücherregal willkürlich einen Widmer-Band heraus. Es ist Vom Fenster meines Hauses aus, 1977 in Zürich erschienen. Ich schaue hinein, das Buch beginnt, so mußte es wohl sein, mit einer rheinischen Szene:

“Vom Fenster meines Hauses aus, an dem ich an einem Holztisch sitze, sehe ich, hinter Telefondrähten, die voller Schwalben mit zitternden Schwänzen sind, die Giebel der Dächer der Häuser von Sesenheim. Wenn ich einatme, pfeifen meine Lungen. Gewitterwolken stehen über der Rheinebene, und hinten bei Sesenheim, das heute Sessenheim heißt, grollt es. Ich weiß, dort, wo jetzt eine Erntemaschine durchs Getreide rast, dort standen Goethe und Friederike, die sich küßten, und es war der letzte Kuß im Leben Friederikes. Es donnerte über dem Schwarzwald. Als Friederike starb, etwa 20 Kilometer südlich von Sesenheim, war das Elsaß immer noch ein stilles Land mit krähenden Hähnen, Störchen, Fachwerkhäusern, Blumen, aber Goethe war ein großes Tier geworden, mit dicken schweren Füßen, einem breiten Mund, fetten Händen und einer öligen Nase.”

(Bild: Still aus Paul Pfeiffer, Morning after the Deluge, 2003)


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