Später Montagnachmittag im Altenheim. Ich trete vor Vaters Zimmer und will gerade klopfen, da sehe ich, dass die Tür einen Spalt offen ist. Ich klopfe trotzdem. Vater hockt im Dunkeln am Tisch und wühlt, ohne etwas sehen zu können, in der Schublade.
“Hal-lo!” ruf ich.
“Was??!”
“Ich bins! Hallo!”
“WER IST DENN DA!?”
“ANDREAS!”
“WER?!”
“ICH! ANDREAS! ICH BINS!”
“Ach soo..!”
Das erste, was ich tue, wenn ich Vater besuche, ist die Nase ins Zimmer schieben und schnuppern. Jedes Mal mache ich das. Es ist ein richtiges kleines Trauma geworden, seit ich zwei Mal kurz hintereinander Zeuge wurde, wie er den Urin nicht mehr halten konnte und auf den Laminat-Fußboden pullerte, lustig wie ein Zimmerspringbrunnen. Ohne dass Vater etwas dafür konnte. Er hatte eine Weile einen Katheterschlauch tragen müssen und noch Tage nach der Entfernung keinerlei Gefühl gehabt für eine natürliche Blasenentleerung. Schön war das trotzdem nicht. Nicht so sehr der Anblick, der war okay, fast sportlich, jedenfalls menschlich, aber dieser beissende, aufdringliche Gestank von Urin.. Als würde das Alter nur noch aus defekten Blasen bestehen, maroden Leitungen.
Am schlimmsten war es bei der Weihnachtsfeier vor vierzehn Tagen, als in der Cafeteria Hunderte Heimbewohner ihre Harnfahnen und warmen Knödelwindeln unter den zusammengeschobenen Tischen schwenkten.
Doch heute riecht es gut, stelle ich erleichtert fest. (Bis auf den üblichen vagen Pipigeruch, jene Hintergrundstimmung, mit der einen jedes Altenheim empfängt.)
“Warum kommst du so spät? Warum machst du das?” Vater klingt verärgert. Er hat Plätzchenkrümel am Mund.
“Ich konnte nicht früher”, sag ich und mache Licht. Alles, was die Schalter hergeben, überall, wo On drauf steht – viel ist es nicht. Eigentlich nur die Deckenbeleuchtung. Alle anderen Lampen funktionieren nicht. Es ist zwar nicht mehr ganz dunkel, aber halbdunkel immer noch.
“Sind alle Lampen kaputt!” ruft Vater und schliesst die Schublade.
“Was hast du da eigentlich gesucht?”
“WAS?”
“WAS DU DA GESUCHT HAST.”
“WO?”
“NA, IN DER SCHUBLADE.”
Er blickt mich verständnislos an, wir belassen es dabei. Er trägt seine speckige blaue Trainingshose, eine Weste und ein bekleckertes kariertes Hemd. Schwarze Schlappen. Der Kleiderschrank ist voller Klamotten, doch er trägt stets das gleiche. Auf dem Tisch entdecke ich die Schalen von Dutzenden geknackter Walnüsse, das erklärt den Plätzchenmund.
“Sind die Lampen kaputt?” fragt Vater.
“Ja, sind kaputt. Was ist passiert?”
“Ach, die da.. ist mir runtergefallen. Hab ich dran gestoßen und, wummz, war sie weg.”
Er meint die auf alt getrimmte Messingleuchte. Ich schraube die 60 Watt-Birne heraus und mache den Schnelltest, um zu prüfen, ob sie noch intakt ist.
“Ist kaputt”, sag ich, “muss ich dir eine neue mitbringen.”
Doch auch die große Stehlampe, die neben dem Ohrensessel steht und gemütliche Stimmung verbreitet, mit Fransenschirm und Zipperschaltung, tut es nicht. Und eine weitere Tischlampe, auf der Nachtkonsole neben dem Bett, gibt auch kein Licht.
“Kein Licht, kein Ton, ich komme schon”, albere ich.
“Was?”
“Schon gut, Papa. Nicht so wichtig.” Ich hab keine Lust, schon am Anfang all mein Pulver zu verschiessen, denn jede kleine Wiederholung kostet Kraft. “Aber wieso sind alle Lampen kaputt..? Die kannst du doch nicht alle runtergeschmissen haben, oder?”
“Warum nicht?”
“Hast du die alle runtergeschmissen?”
“Wieso?”
“Na, weil die alle kaputt sind.”
“Ach, hier ist.. hier kann man doch keinem vertrauen, hier wirst du nur verarscht.. Die Leute machen einem alles kaputt.”
Na ja, die Leute.. Damit meint er wohl Mitarbeiter und Mitbewohner des Heims, doch die werden kaum Vaters Zimmer stürmen, alle Lampen zerstören und dann wieder abziehen, wie ein Rollkommando Licht aus im Alter! – Ressourcen schonen!
“Wieso grinst du so blöd?” fragt Vater.
“Nur so”, sag ich verunsichert.
Seit Vater dement ist und die Demenz neue Schübe feiert, muss man vorsichtig sein mit irgendwelchem Gegrinse. Ironische kleine Schlenker am Mundwinkel kann er gar nicht ab, jedenfalls wenn er keinen Anlass dafür sieht. Mit grundlosem Gelächle kann man meinem Vater nicht mehr kommen. Entweder es gibt einen handfesten Grund für ein Lächeln, dann ist es willkommen, oder eben nicht. Dann hält man aber auch besser die Lippen beisammen und macht keine süffisanten Faxen, die unangebracht sind.
Ehrlich gesagt, ich hab in meinem Leben genug gegrient, es wird höchste Zeit, das einzustellen.
Und so wird mein Vater auf seine alten Tage doch noch mein Lehrer.
Es ist so warm im Zimmer, ich möchte am liebsten sämtliche Fenster aufreissen. Ich meine: das Fenster. Wir sitzen am Tisch und schauen auf die vielbefahrene regennasse Strasse runter. Vaters Blick ist hart von den vielen Medikamenten und zugleich müde und geschafft. Die Augen haben rote Ränder, wie mit dem dünnen Blutstift gezogen. Zwischendurch gehen ihm die Augen zu und er schläft kurz ein.
Als er wach wird, friert er. “Mir ist kalt”, jammert er. Ich nehm ihn in die Arme, reibe seinen Rücken, wir ziehen ihm eine zusätzliche bayrische Trachtenjacke an, er sieht richtig wild aus. Erkundigt sich mehrfach, ob ich die Heizung runtergedreht habe.
Er erzählt, dass er schon als kleiner Junge viel gefroren habe.
“Mir war immer kalt.”
“Wie hast du das denn im Beruf gemacht?” frag ich, um das Gespräch am laufen zu halten.
“Was meinst du?”
“Na, als Klempner musstest du doch oft in kalten Kellern arbeiten, oder nicht?”
Er lächelt verschmitzt.
“Deswegen hab ich doch früh die Meisterprüfung abgelegt und mich selbständig gemacht.”
“Damit du nicht in kalten Kellern buckeln musstst?”
“Richtig, das war meine Überlegung. Solche Arbeiten konnte ich immer delegieren. Da musste ich nicht frieren.”
Erst jetzt fällt mir auf, dass die Gardine zur Hälfte runtergerissen ist. Die linke Hälfte der Gardine hängt schlaff herunter, wie ein Segeltuch bei Flaute, die totale Rentner-Regatta. Ich steh auf und guck mir die Schiene näher an. Tatsächlich. Ein grosser Teil der Gardine ist aus den Röllchen gerissen.
“Was ist denn hier passiert??” ruf ich.
“WAS?”
“Was hier passiert ist, mit der Gardine.. HAT HIER SCHON VOR SILVESTER JEMAND GEBÖLLERT?”
“WAS!??”
“OB HIER JEMAND SCHON GEBÖLLERT HAT, OB HIER JEMAND RAKETEN IN DIE DEKO GESCHOSSEN HAT! VOR SILVESTER!” Ich zeige auf die kaputte Gardine. “DAS IST DOCH NICHT NORMAL.”
“Ach so, die Gardine. Da bin ich gestürzt und wollte mich festhalten. Da ist sie abgegangen..”
“Hast du dir weh getan?”
“Nee. Ist nichts passiert.”
Jetzt weiss ich auch, woher die vielen kleinen blauen Flecke und Blutergüsse auf seinem Arm kommen. Langsam werde ich sauer. Da komme ich am späten Nachmittag ins Heim und mein Vater sitzt im Dunkeln, weil alle Glühbirnen defekt sind. Dann seh ich, dass die Gardine halb runtergerissen ist, wie in einem Pennerhotel.
Wofür zum Henker bezahlt mein Vater eigentlich 3000 Euro im Monat? Eine Frage, die bei jedem Besuch auftaucht. Und bei jedem Besuch ist die Antwort: Für unter Aufsicht gestellte Verwahrlosung.
Kein Wunder, dass mein Vater hier Depressionen kriegt und unglücklich ist.
Bevor ich verärgert in Richtung Schwesternzimmer aufbreche, fällt mein Blick zufällig auf die Mehrfachsteckdose am Boden, das Long Vehicle unter den Steckdosen, das eine Menge Elektrogeräte in Vaters Zimmer mit Strom versorgt. Das Ding ist überhaupt nicht eingestöpselt.
“Kein Wunder, dass hier keine Lampe brennt”, sag ich.
“Was?”
“KEIN WUNDER, DASS HIER KEIN LICHT BRENNT!”
“JA KLAR, WENN DIE GLÜHBIRNEN ALLE EINEN DÖTSCH HABEN..!”
“NEE, DER STECKER IST NICHT IN DER STECKDOSE!”
“WAS ??!”
Ich strecke die Waffen. Der schwerhörige Mensch gewinnt immer. Es ist nicht nur anstrengend, jeden Satz zu wiederholen, man muss auch noch den Lautstärkeregler jedes Mal einige Dezibel hochfahren, damit man endlich verstanden wird.
Natürlich könnte er auch seine teuren Hörapparate benutzen, doch da stören ihn die vielen lauten Nebengeräusche. Da lässt er die Hörgeräte lieber im Schuber, und uns brüllen.
“SAG MAL, PAPA, DU HAST JA GAR NICHT DEINE ZÄHNE DRIN!”
“WELCHE FÄDEN?!”
“DEINE ZÄHNE, KEINE FÄDEN! DIE LIEGEN DOCH HIER AUF DEM TISCH, DEINE ZÄHNE!”
“ZWIEBELN??!”
“DEINE ZÄHNE, PAPA! DIE HAST DU VERGESSEN EINZUSETZEN!”
“Ach so.. Ja. Hab ich vergessen.”
“Na schön. Ist ja nicht schlimm. Müssen wir aber gleich reintun, vor dem Abendbrot.”
Er schläft im Sitzen ein. Ich mache ein bisschen Ordnung im Zimmer. Plötzlich reisst er die Augen auf.
“NEIN!” schreit er. “NEIN!”
Er guckt mich an, fassungslos. Und schläft wieder ein.
Ich nutze die Gelegenheit und gehe ins Schwesternzimmer. Es riecht nach lecker Zigaretten, Pausenraumstimmung, Soul-Radio. Auf dem Adventsgesteck brennen alle vier Kerzen. Fast möchte man nicht stören. Doch dann stehen mir beide Pflegerinnen sofort zur Verfügung, als ich ihnen eine heruntergerissene Zimmergardine melde.
Wie zwei aufgeschreckt gackernde Hühner folgen sie mir in Vaters Zimmer. Eins der beiden ermuntert mich sogar, solche Vorkommnisse künftig SOFORT zu melden.
“Tu ich doch gerade”, wende ich ein, doch das geht im allgemeinen Gegacker unter.
“Sind wir ja immer froh, wenn wir von Angehörigen erfahren, dass die Gardinen wieder mal runtergefallen sind”, gackert die eine.
“Die kommen dauernd runter”, die andere.
“Wenn man wie unsereins einfach so ins Zimmer kommt, sieht man das nicht sofort..”
“Die passen ja gar nicht in die Ösen da oben.. Die Röllchen, mein ich.. Das ist das Problem.”
“Das macht der Hausmeister, der bringt das in Ordnung. Wir schreiben dem das auf.”
“Für heute ist es natürlich schon zu spät, der Hausmeister hat Feierabend. Und morgen ist Silvester, ob der da am Vormittag Dienst hat..!”
“Also nächste Woche”, schleiche ich mich ins Geplapper.
“Ja, nächste Woche, genau!”
Dann macht sich das Federvieh vom Feld, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin. Aufbruch, Geflatter. Tschüss. Dankesehr. Herr Glumm, in einer halben Stunde ist Abendbrot.
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