Schon auf mein Klopfen kommt nur zögerlich Antwort, und als ich sein Zimmer betrete, bietet sich zum zweiten Mal diese Woche ein beinah identisches Bild: Er steht inmitten der eigenen Urinlache, und es stinkt erbärmlich. Er kann den Urin nicht mehr halten, seit dieser Sache mit dem Blasenkatheter. Es sprudelt aus ihm heraus, ob er will oder nicht.
Er ist verzweifelt.
“Papa..! Was machst du..!?” frage ich auch noch, als wäre es nicht offensichtlich, was passiert ist, doch ich fühle mich überfordert, kaum, dass ich im Heim angekommen bin. Er steht ohne Hosen da, nur mit einem Holzfällerhemd bekleidet, inmitten seiner Pisse, ein zittriges nackiges Männlein, das ich liebe.
Gott sei Dank, dass du da bist, sagen seine Augen. Endlich.
“Einen Moment”, sage ich, “setz dich aufs Bett, ich hole jemanden.”
Wir zahlen fast dreitausend Euro pro Monat, da wische ich nicht auch noch die ganze Pisse auf. Nicht, wenn es sich um solche Mengen handelt. Gefroren könnte man darauf Schlittschuhlaufen. Ich mache mich auf die Suche nach Personal. Es ist Donnerstagnachmittag. Im Gang vorm Aufenthaltsraum sitzt ein Dutzend alter Damen schweigend beisammen und erwartet das Abendbrot, das in gut anderthalb Stunden serviert wird.
“Sind hier irgendwo Pfleger?” frage ich in die Runde. Man kennt mich mittlerweile. Was bedeutet, man nimmt mich wahr. Als ich die ersten Male freundlich grüßte, blickte ich in eisige Gesichter voller Einsamkeit und Verdruss. Jetzt ist es besser geworden. Ich ernte vereinzelt sogar ein zaghaftes Lächeln.
“Nein..” “Keinen gesehen..” “Vielleicht da drüben..”
Zwei Pflegekräfte, plus stundenweise eine Sozialarbeiterin, sind tagsüber für zwei Wohngruppen verantwortlich, vielleicht für fünfzig Menschen. Ich frage mich, wo das ganze Geld bleibt, das Monat für Monat zusammenkommt und sich aus Rentenzahlungen und Leistungen der Pflegekassen, aus Ersparnissen, Sozialhilfe und Kostenanteilen der Angehörigen zusammensetzt. Ich frage mich, wer zum Teufel sich da die Taschen voll macht. Das Pflegepersonal jedenfalls nicht, das steht mal fest.
Im zweiten Trakt der Etage, am Ende des Gangs, sehe ich einen Medikamentenwagen. Da in der Nähe werden sie wohl zu tun haben, die Mitarbeiter, die in der Mehrzahl Mitarbeiterinnen sind. Eine Zimmertür steht offen. Marcel, der nette jungenhafte Pfleger sowie eine Kollegin, ein draller Blitz, machen sich am Hintern einer bettlägerigen Heimbewohnerin zu schaffen.
“Darf ich kurz stören?”
Marcel hat mich bereits erblickt, in der Hand einen Batzen vollgeschifftes Zellstoffpapier. Er gluckst.
“Sicher. Wenn Sie nur noch einen Moment draußen bleiben..”
“Gern”, geb ich süffisant zurück.
Von der Heiminsassin ist aus meiner Position nichts zu erkennen, ich seh nur Marcels routiniert wirbelnde Hände und das Scheißhauspapier.
Ich stehe aufgebracht im Türrahmen.
“Ich komm gerade von meinem Vater. Der pinkelt schon wieder sein Zimmer voll. Es stinkt bestialisch nach Pisse.”
Wenn ich irgendetwas gelernt habe im Leben, dann zweierlei. Erstens: Es gibt immer eine gute Chance in Schwierigkeiten zu geraten. Zweitens: Klartext hilft.
Die Pflegerin ist nicht überrascht.
“Ihr Vater hat gestern schon alles vollgemacht. Drei Mal haben wir sein Zimmer durchgewischt."
“Könnt ihr ihm nicht eine Windel anziehen..?”
"Das mit der Windel können wir noch mal versuchen, ja..”
“Aber er reißt sie sich immer ab", fährt Marcel fort. "Einmal meinte er zu mir, in die Hose scheißen wäre bequemer.” Er lacht. “Das findet aber nicht jeder Kollege lustig.”
“Ja gut”, sag ich. “Können Sie trotzdem gleich mal rüberkommen?”
“Ja sicher”, sagt Marcel.
Die Flure des Heims sind hell und geräumig, überall gibt es ansprechend eingerichtete Nischen. Sogar an richtige Wohnzimmer haben die Architekten gedacht, mit Möbeln aus dem Antiquitätenladen, echten Liebhaberstücken, aber sie bleiben größtenteils unbenutzt. Lieber tummeln sich die Alten im nüchternen Durchgang vorm Essensraum, so angespannt, als erwarteten sie die Medikamentenlieferung für die Weihnachtsfeiertage oder den Pizzaboten, der niemals kommt, genauso wenig wie die liebe Verwandtschaft.
Viele Heimbewohner sind dement, darunter auch Herr Ohoven, der von meinem Vater, selbst schon 87, nur der Alte genannt wird. Der Alte ist ununterbrochen unterwegs, die Gänge rauf und runter, ohne Rollator. Ein zäher, in gebückter Haltung vorwärts drängelnder Greis, der kaum noch ein Wort spricht, sich aber vehement an Vorhängen zu schaffen macht, an Tischdecken, Zuckerdosen und fremden Zimmern. Ständig fordert er einen auf, ihn bei der Hand zu nehmen und ein Stück zu begleiten, doch sein Weg kennt kein Ziel, niemals, nur das schier unendliche hoffnungslose Strecke machen.
Auch die weichliche alte Frau im Rollstuhl, die jedes Mal, wenn sie mich sieht, die Hände nach mir ausstreckt wie nach dem Heiland und unverständliches Zeug brabbelt, streckt die Hände nach mir aus, als sie mich erblickt, und wimmert wie ein Kleinkind. Was mich wütend macht. Ich bin kein verdammter Pfleger, gute Frau! Ich bin der Sohn eines demenzkranken alten Mannes, der zufällig hier gelandet ist. Jedenfalls nicht aus freien Stücken. Pflegestufe 2, Demenz. Und jetzt pinkelt er auch noch regelmäßig in die Landschaft, die sich aus Laminatfußboden und kargen Möbeln zusammensetzt. Ich könnte heulen! Weg da! die verdammten Hände da weg! gute weiche Frau - ich muss weiter!
Eine weitere Heimbewohnerin winkt mir zu, Frau Berend. Sie ist noch relativ fit im Kopf. Mit ihrem verstorbenen Mann leitete sie vier Jahrzehnte einen Stahlwarenhandel in der Nordstadt. Ihr linkes Auge flattert.
“Soll ich schweinische Witze erzählen?”
“Heute nicht", sag ich. "Ich muss zurück zu meinem Vater. Dem gehts nicht gut.”
“Ja, wir haben uns schon gewundert, wo er bleibt. Er war nicht beim Essen.”
Vergangene Woche saßen wir zu dritt unten im Cafe und amüsierten uns. Da ging es Vater noch gut. Was rede ich, blendend ging es ihm. Frau Berend haute einen Witz nach dem anderen raus und Vater musste schallend lachen. Es platzte richtig aus ihm heraus.
Zurück in seinem Zimmer. Papa kauert unverändert schief auf dem Bettrand und präsentiert seinen dicken Sack. Eine bepinkelte Unterhose hängt über der Armlehne des Ohrensessels, Strümpfe liegen auf dem Boden verteilt, ebenso frische Winterunterwäsche, die er vermutlich aus dem Schrank geholt hat, auf der verzweifelten Suche nach sauberen Unterhosen.
Ich bewege mich vorsichtig durchs Zimmer. Sammle Kleiderstücke auf, entsorge sie in den Wäschekorb, trete möglichst nicht in Urinpfützen. Versuche dabei konzentriert durch den Mund zu atmen.
“Mann, hier stinkts vielleicht”, sag ich und kippe das Fenster.
“Ja, ist doch klar”, sagt Papa leise.
Es ist ihm furchtbar peinlich, aber er ist unfähig etwas an der Situation zu ändern.
“Papa, warum drückst du nicht den Alarmknopf, wenn du Not hast?”
Er blickt mich mit großen hilflosen Augen an. Er hat keinen Schimmer, wovon ich spreche. Ich zeige ihm das Notruf-Medaillon, das auf dem Nachttisch liegt. Ein alarmrotes Teil, schwer übersehbar.
“Hier musst du draufdrücken, wenn du Hilfe brauchst.” Ich weiß nicht, wie oft wir ihm schon gezeigt haben, wie es funktioniert.
“Ja.. aber die haben doch gar keinen Dienst”, sagt Vater.
“Wer hat keinen Dienst?”
“Na.. die..”
“Die Pfleger?”
Er nickt.
“Doch”, sage ich. “klar haben die Dienst, die arbeiten doch hier. Es ist deren Job, dir zu helfen. Aber wenn du keinen Alarmknopf drückst, wissen die Pfleger nicht, dass du Hilfe brauchst. Dann gehen die am Zimmer vorbei und denken, mit dem Mann ist alles in Ordnung. Mit dem Mann ist aber nichts in Ordnung. Nicht an Tagen wie heute.” Und gestern, denke ich weiter. Und vorgestern. Und vorvorgestern und..
"Wer ist denn der Mann in der Ecke..?" fragt Vater.
"Was für ein Mann?"
"Na, der Mann da, mit den roten Handschuhen."
Zur Demenz, der Blasenschwäche, seinem kaputten Herz und dem chronischem Asthma gesellen sich zunehmend Halluzinationen, von den zahllosen Medikamenten, die er Tag für Tag einnehmen muss. Er sieht Leute in der Ecke sitzen, die nicht da sind, er sieht Fotos brennen an der Wand und große Löcher, die bis tief ins Mauerwerk reichen und die Welt offenlegen als der Ort, der sie ist, ein Ort der Leere und der Furcht.
"Hier ist niemand außer mir. Was du meinst, das ist mein Rucksack, der hat rote Seitenstreifen. Ruh dich aus, Papa.. Es ist alles in Ordnung."
Ich stehe auf und knipse die Deckenbeleuchtung an.
"Siehst du, das ist nur mein Rucksack, den ich auf dem Tisch abgelegt hab."
Er nickt, ist aber nicht restlos überzeugt. Ich sehe es seinen Augen an. Es ist dieser ängstliche Blick, der mich an meine eigenen Ängste als Kind erinnert, wenn Samstagmittags Punkt zwölf die Luftschutzsirenen zur Probe heulten, und ich jedes Mal fürchtete, es wäre kein Probealarm, nicht dieses Mal.
“Ich muss schon wieder pinkeln”, sagt Vater.
Ich greife nach seiner Hand.
“Komm, wir gehen aufs Klo. Du schaffst es bis dahin..”
Er hat Mühe, vom Bett hochzukommen. Er bewegt sich mit langsamen tippelnden Schritten, wie eine knochige Geisha. Seinem Gesichtsausdruck ist anzusehen, dass er es nicht schaffen wird. Dass er den Kampf schon aufgegeben hat. In diesem Moment bleibt er stehen, schaut an sich herunter, und lässt es laufen. Er steht mitten in seinem Zimmer und pinkelt auf den mit Laminat ausgelegten Fußboden. Ein Zimmerspringbrunnen. Ich halte seine Hand gedrückt.
In diesem Augenblick öffnet sich die Zimmertür und die dralle kleine Pflegerin, (“Die Dicke ist in Ordnung”, sagt Vater später), schaut herein, fassungslos.
“Sehen Sie”, sag ich, “er kann es nicht bei sich behalten. Er schafft es nicht.”
Mir ist übel von dem Gestank, der von den überhitzten Heizkörpern noch befeuert wird. Die Situation an sich ist in Ordnung. Es ist, wie es ist.
“Er macht es ja nicht extra”, wiegle ich ab.
“Ja, natürlich nicht.”
Marcel taucht auf und übernimmt das Ruder. Glucksend.
“Ah, in flagranti erwischt!”
Er führt Papa zum Klo.
“Wohin?” fragt der. “Hier lang?”
Der Pfleger legt ihm eine Inkontinenz-Einlage an, inklusive Stretchunterhose, während die Kollegin den Boden wischt mit spezieller Desinfektionslösung. Nachdem Vater versorgt ist, wird er ins Bett verfrachtet, damit er sich etwas beruhigen kann. Er ist völlig erschöpft. Er ist blass und dünn wie nie. Seine Zunge knallrot, vermutlich von der italienischen Apotheken-Lakritze, die er so gern mag. Meist mischt er sie mit Pfefferminzbonbons, so macht er das seit den Kindertagen. Pfefferminze und italienische Lakritze gemixt. Italienische, weil die einen Schlag stärker ist als deutsche Lakritze, so seine Überzeugung. Überhaupt ist es die Mixtur, die stimmen muss im Leben. Schwarz und weiß, Lakritze und Pfefferminz.
“Man sollte medizinisch darauf aufbauen”, fordert er.
Ich decke Vater zu, weil er trotz der Hitze friert. Mit einer Extra-Wolldecke. Er liegt da wie eine Mumie. Ein frisch parfümierter Platzhirsch.
“Was bin ich fertig”, flüstert er. “Du hast vielleicht eine Krücke als Vater.”
“Ach was. Du bist keine Krücke. Mit Siebenundachtzig darf man das.”
Ich lasse ihn in Ruhe und blättere in der Tageszeitung, die er abonniert hat, aber kaum noch liest. Die Augen fallen ihm zu, er sinkt zurück ins Bett.
“Endlich”, wispert er, “endlich kann ich mich ausruhen.”
Weil ich darauf nicht reagiere, ich studiere die Todesanzeigen, wird er lauter.
“Sag mal, hast du mich.. verstanden?”
“Ja”, sag ich. “Hab ich, klar. Du kannst dich.. endlich ausruhen.”
“Ja, endlich kann ich mich ausruhen..”